Ein rechter Müsli

Neulich habe ich den lieben Gott besucht. Er wohnt gleich um die Ecke, eine Treppe rauf, da steht es bereits auf der Klingel: "Lieber Gott, 3x klingeln". Ich klingle also 3x. Schlurfende Schritte, die Tür knarrt. Feiner Roststaub fällt aus den Scharnieren. "Hi, Ekkard", sagt er, "lange nicht gesehen, komm' rein ..." - so das Übliche.

Wir haben dann lange geschwiegen, Tee getrunken und ich habe gedacht: Komisch, eigentlich hätte ich sooo viele Fragen, aber mir war, als seien alle Fragen weggewischt. Mich wundert immer wieder, wie ich eigentlich hierher komme. Ich gehe tausendmal an dieser Ecke vorbei, fast nie komme ich auf die Idee, die Treppe rauf zu gehen. Ich kann mich normalerweise nicht einmal an die Treppe erinnern - sie fällt einfach nicht auf. Andere waren wohl noch nie hier? Kaum habe ich das gedacht, grinst der liebe Gott und sagt: "Doch, nur die meisten wissen es nicht". Indem steht der liebe Gott auf und macht das Fenster auf. Der sonnenbeschienene Platz, der durch das Fenster zu sehen war, ist verschwunden. Es ist Nacht, draußen zieht eine wunderschöne Spiralgalaxie vorbei, dann dauert es ein Weile, bis sich die Augen an das Dunkel gewöhnt haben. Wir stehen am Fenster. Der liebe Gott legt mir die Hand auf die Schulter und zeigt mit der anderen auf den leeren Raum. "Da ziehen sie!" sagt er und beschreibt einen weiten Bogen. 'Keine Ahnung!' denke ich. "Na, die anderen!" sagt er. In der Ferne schimmern Myriaden von Lichtinseln, klein, verloren in einer Schwärze, wie ich sie nur hier zu sehen bekomme. Ich staune.

Ich frage den lieben Gott, ob er die Welt wieder so machen würde. Dumme Frage, ich weiß, aber irgendwie muss ich in Schwung kommen. "Hm", brummt der liebe Gott, "du meinst 'genau so'". Ich nicke leicht, zustimmend. "Nö", sagt der liebe Gott, "das geht nicht, höchstens ähnlich". Er schüttelt leicht seinen Kopf, und murmelt fast zu sich selbst: "Was die Menschen auch immer denken!? Jeder kann doch die Treppe hier herauf kommen und mich fragen." - "Jeder?" - "Ja, warum denn nicht?". 'Hm', denke ich, 'wir die Sünder, die schlechten Menschen, die Atheisten, die Feinde der Religion, Zweifler und so'.

"Du bist doof!" sagt der liebe Gott und grinst mich frech an. "Bist du hier?" - "Na, ja", sage ich und ziehe das 'a' ziemlich in die Länge. "Also", erwidert der liebe Gott, "du bist hier. Du schaust mit mir aus dem Fenster auf die Ewigkeit da draußen und wir unterhalten uns - richtig?" - "Ja, doch". Der liebe Gott schließt das Fenster. Der Dorfplatz ist wieder zu sehen und unsere Straße zur Welt. Wir wenden uns wieder dem Tisch mit der Kanne auf dem Stövchen und unseren Tassen zu. "Sag mal, lieber Gott, da gibt es Leute, die meinen, nur nach einer Läuterung zu dir kommen zu dürfen." - "Gegenfrage, mein Lieber, bist du geläutert?" - Nach einer Pause fügt der liebe Gott hinzu: "was immer "läutern" auch bedeutet!". "Nö", gestehe ich. Der liebe Gott grinst zufrieden und nibbelt an seinem Tee. "Was machst Du eigentlich mit den Leuten, die so hinter dem Sex her sind, ist doch unanständig" - "Nö!" sagt der liebe Gott, und lacht hell und anzüglich, sieht blitzschnell so aus, wie ich mir einen geilen Vamp vorstelle. Im nächsten Moment ist er wieder der Alte.

Ich druckse herum: "Die Mörder, Kinderschänder, Kriegshetzer, Nazis?" ich schaue fragend. Der liebe Gott sieht aus, als hätte er eine Kröte zu essen. Dann spült er mit einem Tee nach und sagt bedächtig: "Von denen sehe ich nie einen - oder doch, ich sehe, wie sie als Kinder gedemütigt, geschlagen, gedrillt und missbraucht werden." - "Und?" frage ich zurück. Der liebe Gott sieht lange zu mir herüber, steht auf, geht zum Fenster. Er bricht sein Schweigen und sagt: "Würdest du sie nehmen, als sie gequälte Kinder waren?" Ich merke, dass sich meine Gedanken verwirren. 'Zeit?' denke ich 'Rückwärts?'. Der liebe Gott öffnet das Fenster, diesmal ist eine Wiese zu sehen, die sich zum Horizont dehnt, sattes Grün, Spielsachen und hier und da Kinder, die glücklich herum toben und frei sind, das zu tun, was ihnen gerade Spaß macht, manches davon unanständig, das Übliche halt. "Die Zeit" sagt der liebe Gott "heilt Wunden". 'So herum habe ich das noch nie betrachtet!' denke ich.

Als die Tassen leer sind, und wir gemeinsam noch etwas geschwiegen haben, ist es Zeit, zu gehen. Ich verspreche, mal wieder vorbei zu kommen. Ich hoffe, die Treppe gleich rechts nicht zu verpassen und 3x zu klingeln. 'Der liebe Gott ist ein rechter Müsli', denke ich. Ein frohes Lächeln trumpft innerlich auf.

Ekkard, 20. Januar 2003