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Der Samstag begann wie im Bilderbuch. Reif bedeckte als feine, weiße Schicht die Bäume, die Wiesen und die Dächer. Die niedrige Wintersonne leckte an Zäunen und Autotüren die letzten Reste von Reif weg. Der arbeitsfreie Tag gab der Schöpfung ihre Stille zurück.

Die Gelegenheit war günstig, endlich das geheizte Haus zu verlassen und in die winterliche Landschaft einzutreten. Die Wanderung begann. Zunächst wanderte ich die Straße hinauf und war froh, dass kein Auto meine Ruhe störte. Oben am Berg ging ich nach rechts. Nach einiger Zeit führte, nochmals rechts, ein weites Tal abwärts. Anfangs folgte ich auch dort der Straße. Wenig später zweigte ein Feldweg ab, der mich geradewegs an die uralten Eichen heran führte.

Die Eichen bilden den Rand eines urwaldgleichen Laubwaldes, der jeder Kathedrale den Rang streitig machen konnte. Ein Netz von Waldwegen teilte das Unterholz in übersichtliche Flecken. Ein idealer Ort, mit den Gedanken allein zu sein.

Ich wanderte noch ein wenig am Waldrand entlang, um die Sonne noch ein Wenig zu nutzen. Ein Mann mit Hund begegnete mir, d.h. zuerst kam der Hund, legte den Kopf schräg und schaute an mir hoch. Er schien mich nicht für eine Gefahr zu halten. Dann waren auch schon Hund und Mann an mir vorbei, wir grüßten kurz, wie das auf dem Land so üblich ist. Anschließend bog ich nach rechts zwischen die Bäume und im feuchten, dunklen Winterwald hallten meine Schritte wieder.

Laub raschelte, Äste knackten. Die Stille draußen war hier nicht mehr zu spüren, ich störte. Die Bäume würden sich an mich nicht erinnern, aber ich würde die Geräusche, deren Ursache ich war, nicht so bald vergessen - aber das auch noch aus einem anderen Grund.

Denn neben mir hörte ich deutlich und etwas leiser als mein eigenes Lärmen eine zweite Schrittfolge. Als ich mich umwandte, stand da doch tatsächlich der liebe Gott mit seinem Hund! Wir grüßten uns, denn wir waren ja alte Freunde. ER in seinen Sandalen, mit zünftigem Wanderstab, grauem Umhang, der in der Dämmerung des Waldes dem Reif an den Zweigen zum Verwechseln ähnlich sah, und ich in meiner dicken Winterjacke.

"Lieber Gott!", rief ich überrascht, "Du - hier?" fragte ich. Der liebe Gott lächelte, dass sich die Falten noch tiefer in sein Gesicht eingruben und meinte leichthin: "Ich kann doch nicht immer in meiner Bude hocken? Oder!" Das war natürlich richtig. So schritten wir also gemeinsam aus und schwiegen eine Weile. Die Bäume wanderten an uns vorbei und es wurde uns ganz feierlich von dieser Prozession. Stiller war es nun, denn wir hatten einen weichen Weg erreicht, den der Frost zum Glück begehbar gemacht hatte.

"Gehst du hier öfter?" fragte ich in die Stille neben mir. Der liebe Gott drehte mir sein Gesicht zu, und meinte: "Öfter jedenfalls als Du". Ich weiß, ich bin kein gesundheitsbewusster Mensch, der täglich seine Meile abspult. "Sollte ich öfter?" fragte ich. Der liebe Gott nickte eifrig: "Dazu hast du Beine!" Manchmal muss man IHM einfach glauben!

"Weißt du", fing ich nach einer Weile wieder an, "ich würde gerne wissen, was das mit den Geistern, den Engeln und sonstigen himmlischen Heerscharen auf sich hat. Gibt es die?" Einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte ich mich zum lieben Gott und hielt ihm meine Hand hin. 'Hatte ER mich dazu aufgefordert?' In seiner Gegenwart konnte sich mein Verhalten auf unerklärliche Weise ändern! "Ist doch nichts neues!" sagte der liebe Gott, "halt' mich 'mal!". Er fasste mit seiner Rechten in die meine, umfasste meinen Daumen, dann stütze ER sich fest ab und ich drohte umzufallen. Ein seltsames Gewicht lastete plötzlich auf meiner Hand und der liebe Gott setzte einen Fuß auf auf meinen Handballen. Die Perspektive war grotesk: Zwei kleine Händchen klammerten sich an meinem Daumen fest, ein ebenso kleiner Fuß stieg mir auf den Handballen und daran hing ein Mann mit seiner ganzen Statur.

Im nächten Augenblick hatte der liebe Gott festen Stand auf meiner Handfläche und wirkte ziemlich klein. Sein Wanderstab lehnt einen Schritt von mir entfernt in alter Größe an einer Buche. Lehnte?
Merkwürdig, er war dort nach Art einer Luftwurzel festgewachsen. "Schau her!" sagte der liebe Gott; dann fragte er: "Bin ich jetzt jemand anderer?" - "Natürlich nicht!" antwortete ich. Das Gewicht auf meiner Hand wurde weniger. Im nächsten Moment hatte ich Mühe, nicht nach hinten zu kippen.
In der Ferne bellte ein Hund.

Ekkard Brewig, 25.01.2003