Die erste Nacht (Zeit-Myzel, Seite 3)

In meinem Käfig aus Ästen und Zweigen fühle ich mich einigermaßen sicher. Sterne grüßen von oben. Äste schieben sich als Silhouetten vor das Firmament. Und unter mir schleicht eine Raubkatze, richtet sich auf und fährt mit der Tatze prüfend außen über meinen Käfig. Ich stelle mir vor, ich sei diese Katze, ein Puma vielleicht. Vor mir die Beute, doch leider hinter starkem Geäst verborgen. Ich springe hinein in dieses Gewirr, stoße mit dem Kopf an. Alles schwankt und meine Beute wird plötzlich ein riesiger Schatten. Fauchend springe ich aus dem Busch und hoffe auf weniger gefährliches Futter.
In der Tat hatte ich mich aufgerichtet, einen starken Ast in der Hand, bereit zum vernichtenden Schlag. Fürs erste kann ich weiter ruhen! Kann ich das? Meine Gedanken kreisen um die Geschehnisse des abgelaufenen Tages. Ich bin im nahen Wasser aufgetaucht. Wie bin ich dort hinein gekommen? Und das gleich zweimal! Bin ich beim ersten Mal verletzt gewesen, dass mich der Fischschwarm angefallen hat, beim zweiten Mal nicht? Hatte ich da einfach nur Glück? Meine Gedanken vermischen sich mit den Geräuschen und den schemenhaften Schattenbildern in der sternenbeleuchteten Welt um mich herum, unterbrochen von den schwarzen Ästen, die mich schützen sollen. Die von mir erbeutete Schlange bewegt sich leicht. Jemand knabbert und schmatzt leise. Ich höre es ganz deutlich. Zwei handtellergroße Augen starren aus dem Schattenreich des Geästs.
Ab und zu nähern sich die Augen. Eine hundeähnliche Schnauze schiebt sich an meine Gitterstäbe, beißt hindurch in den Schlangenleib und zieht sich kauend wieder zurück. Ehe ich meine Beute und mich selbst in Sicherheit bringen kann, segelt ein Schatten von oben in meinen Käfig. Schimmernde Insektenaugen halten mich fest im Blick. Sie scheinen mich hypnotisieren zu wollen. Ich spüre, wie Fühler meine Haut abtasten. Mit ruckartigen Bewegungen zieht sich der Schatten zurück; ich versuche, den Eindringling wegzuwischen. Doch der leistet Widerstand, mehr noch: er verbeißt sich in meinen Handrücken. Ein stechender Schmerz bohrt sich in mein Bewusstsein. Ich schlage zu. Mitten in der Bewegung löst sich das Tier und fliegt nach oben und entschwindet meinen Blicken. Kann es fliegen? Wird es wiederkommen?
Ich sauge an der Bisswunde, schmecke aber nur mein eigenes Blut. Als ich mich Tellerauge wieder zuwende, ist meine Beute verschwunden. Tellerauge schaut mich seelenruhig an, kaut und schluckt. Er scheint genau zu wissen, wie lang meine Arme sind und hält sich entsprechend außer Reichweite. Vorläufig verteilen sich Sieg und Niederlage sehr zu meinen Ungunsten. Das nach oben offene Käfiggeflecht scheint auch nicht ausreichend für mein Überleben.
Außerdem weht inzwischen ein kühler Nachtwind von der See her. Ich friere und an Schlaf ist so nicht zu denken.

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