Tellerauge (Zeit-Myzel, Seite 5)

Der Schlaf schwindet schlagartig. Die für mich unheimliche, neue Welt dringt auf mich ein. Die schräg stehende Morgensonne bricht mit scharfen Strahlen durch das Dämmerlicht in unserem Busch. Mein Blick endet in den handtellergroßen Augen meines neuen Freundes, den ich einfach Tellerauge nenne, bis mir etwas Besseres für ihn (oder sie) einfällt. Ich bin unschlüssig, wie ich einen Tag anfangen soll, der im Dämmerlicht von Buschwerk beginnt mit einem zwar ungefährlichen aber völlig unbekannten Pelzwesen mit Hundeschnauze und Telleraugen an meiner Seite. Tellerauge hat Hunger, ich auch. Also, was essen wir, wenn große fliegende Wesen die Beute vom Vortag entführt und gefressen haben?
Vorsichtig biege ich ein paar Äste auseinander, schlüpfe hindurch und halte mit einiger Anstrengung die Öffnung für Tellerauge auf. Zu meinem Erstaunen folgt mir Tellerauge nicht. Stattdessen hat er die Augen wieder geschlossen, sich zusammen gerollt und die Schnauze ins Fell gesteckt. Er schläft. Ich lasse die Äste los und die Öffnung schließt sich wieder, so gut es geht.
Vorsichtig lasse ich mich auf den Boden hinab. Das gesamte Buschwerk gerät dabei in Bewegung. Einige vogelähnliche, graubraune Wesen flattern erschreckt davon. und stoßen ein Quietschen aus, wie von einem rostigen Scharnier. Das Aststück, mit dem ich in der vergangenen Nacht die Raubkatze habe erschlagen wollen, plumpst neben mir in den Sand. Ich schaue kurz zu unserem Käfig hinauf. Tellerauge blinzelt kurz und schläft weiter - oder tut so. Gut, ein Stock ist immer eine nützliche Sache, wenn es gefährlich werden sollte.
Etwas landet auf meiner linken Schulter, krallt sich schmerzhaft in meine Haut und beginnt wild auf meinen Kopf zu hacken.
Ich greife nach oben, aber ins Leere. Ein lederner Flügel klatscht mir ins Gesicht. Wenigstens diesen Flügel bekomme ich zu fassen und reiße daran. Zugleich lasse ich mich rücklings in den Sand fallen und hoffe, das Tier dabei auf den Boden zu schmettern. Doch das Wesen ist schlauer, als ich dachte. Es lässt los, segelt ein Stück weg, gewinnt mit einigen Flügelschlägen an Höhe und greift erneut an. Ich wende mich um, zucke jedoch durch den Schmerz in der verletzten Schulter zusammen.

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