Zeit-Myzel, Seite 58

Wetu Eleanor, Tellerauge und Schregg kletterten, hangelten und sprangen oberhalb des Bodendickichts durchs Geäst. Die Tage gingen dahin zwischen der mühsamen Art der Fortbewegung, einigen Abstürzen mit zunehmender Zahl von Blutergüssen bei Wetu. Wetu erlebte eine weitere Facette seiner neuen Welt: die Kletterebene, in der Tellerauge zu Hause war. Er wäre längst bei den Menschen, dachte Wetu bei sich, wenn der undurchdringliche Bodenbewuchs nicht wäre.

Schein

Die Tage vergingen mit Kletterei, die Abende mit der Herrichtung eines einigermaßen geschützten Käfig-Lagers in luftiger Höhe. Es gab inzwischen keine Körperecke, die mir nicht wehtat. Immer wieder erwiesen sich Äste, auf denen ich zu balancieren versuchte, als brüchig oder extrem nachgiebig. Urplötzlich sackte ich nach unten weg und landete unsanft auf dem zwar undurchdringlichen, aber keineswegs gleichmäßigen Bodendickicht. Zu meinem Glück besaßen die Büsche hier keine Stacheln oder Dornen. Hin und wieder schnitt ich mich an den Blättern der Messerlilien. Dann musste ich warten, bis der zungenähnliche Spross aus dem Zentrum der Pflanze das ganze Blut aufgeleckt hatte, was mir eine längere Zwangspause bescherte. Wie ich inzwischen wusste, wäre die Flucht tödlich für mich. Erst die Berührung mit dem Spross ließ schließlich die Blutung versiegen. Mir ging in diesem Zusammenhang der Spruch: "Die Pflanze ist doch kein Unmensch!" nicht aus dem Kopf. Bei diesen Gedanken musste ich lachen, so dass sich Schregg trippelnd zu mir umwandte.

Als ich die Zählung bereits lange aufgegeben hatte, gab es ganze Tage, an denen ich überhaupt nicht mehr abgerutscht, ausgeglitten oder ins tiefer liegende Gestrüpp gestürzt war. Die Erfolge meiner neuen Fortbewegungsart bemerkte ich erst, als ich vor einer Art Trichter im Unterholz ankam, und ich die jenseitige Trichterwand erst mehr als hundert Schritte entfernt sah. Es war auch wesentlich heller, und ich konnte mir vorstellen, dass der Sonnenschein zu bestimmten Tageszeiten den Boden erreichen würde. Ich hatte die Wahl, entweder auf den Waldboden hinab zu steigen, die Lichtung zu durchschreiten und wieder nach oben zu kraxeln, oder einen großen Bogen in etwa gleicher Höhe zu klettern.

Die Entscheidung wurde mit vollkommen abgenommen, denn plötzlich wurde die Liane, an der ich mich hielt, länger und länger. Wenn ich nicht kopfüber abstürzen wollte, musste ich abspringen. Immerhin bremste die nachgebende Schlingpflanze, an der ich mich immer noch festhielt, meine Geschwindigkeit soweit, dass ich unsanft zwar aber ohne Verletzungen auf dem Boden ankam. Der Boden war zudem mit einer Art dichtem Moos bewachsen, was den Aufprall fühlbar gedämpft hatte.

Ich konnte gerade noch dankbar feststellen, dass ich ohne Verletzungen und Knochenbrüche auf dem Boden der Lichtung angelangt war, als meine Sinne von einem den ganzen Körper erfassenden Brennen ertränkt wurden. Ich hatte dies bereits einmal erlebt. Offenbar war ich beim unfreiwilligen Sprung in die Tiefe wieder mit jenem Pilz in Berührung gekommen, der mich in die Welt des "Weisen Geistes dieser Welt " entführt hatte.

Statt auf dem mit Moos überwucherten Waldboden hockte ich auf dem Weg zum Pilzhaus des Kobolds.

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