Gericht, Zeit-Myzel, Seite 85

Wir hatten diesen Morgen keine Beute machen können. Es fiel ein kühler Nieselregen und von den Zweigen tropfte es kalt. Wir froren, obwohl es noch über vierzehn Monate meiner Erinnerung warm bleiben sollte. Die Flugechsen lagen lustlos am Strand und schlossen die Augen, als wir uns der Hütte mit unserem Gefangenen näherten. Für uns stellte sich die Frage, wie wir mit dem Jäger Lohaman verfahren sollten. Das Einzige, was in seinen Augen eine Art Autorität darstellte, war Claras und meine Fähigkeit, mit Tieren eine geistige Verbindung einzugehen. Ich hatte angenommen, dies sei eine allgemeine Eigenschaft der Menschen in dieser Welt, was offenbar ein Irrtum war. Aber würde diese Besonderheit reichen, mit einem Jäger fertig zu werden, der in den Denkmustern der Stammeshierarchie verharrte? Wie wir nur zu gut wussten, galt allein der Befehl des Häuptlings. Alle übrigen Stammesglieder hatten sich danach zu richten. Nur der Tod des Häuptlings beendete diese Befehlsgewalt. Für einen mutigen Jäger wie Lahaman bedeutete es den sicheren Tod, erfolglos nach Hause zu kommen, unsere Argumente anzuhören oder - noch schlimmer -, sich uns anzuschließen. Von ihm und seinen Ehrbegriffen hatten wir nur unseren Tod zu erwarten. Auf der anderen Seite: ich besaß Erinnerungen, die weit jenseits solcher archaischer Strukturen lagen. Mein Problem war, diese Vorstellungen anzuwenden.

Clara, Talrin und ich trafen uns mit Jakat und ihren drei Söhnen. Wir besprachen das weitere Vorgehen. Die Frauen wollten Lahaman sofort töten. Doch ich argumentierte dagegen, dass wir hier außerhalb des Stammes jeden Arm brauchen würden, die Herbst- und Winterzeit zu überleben. Letztendlich stimmten wir darin überein, eine Art Gericht abzuhalten, in dem alle uns bekannten Tatsachen vorgebracht werden und jeder seine Beurteilung anbringen konnte.

Hier draußen galten andere Gesetze, als im Stammesgebiet. Lohaman würde zuhören müssen und konnte dann entscheiden. So wie ich ihn einschätzte, würde er sich zunächst fügen, aber auf eine Chance hoffen, seinen ursprünglichen Auftrag zu Ende zu führen.

Nachdem wir einen einigermaßen trockenen Platz unter einem der Riesenbäume ausgesucht hatten, ließen wir Lohaman frei und bedeuteten ihm, sich zu uns in einen Kreis zu setzen. Aus unseren Vorräten bekamen alle etwas zu essen und zu trinken - auch Lohaman.

Zunächst ließ ich Clara ihre Geschichte erzählen, dann Jakat.

Jakat und einige andere Frauen des Stammes waren seit Kinderzeiten Gespielinnen oder Freundinnen der Häuptlingstochter Begare mit dem Zweitnamen Tergun. Die Tergun richtete es eines Tages so ein, dass sie und Hanak, Jakats Mann, allein unterwegs waren. Ihre Absicht war wohl, Hanak einmal für sich zu gewinnen. Strenge Eheregeln gab es im Stamm nicht, so dass gelegentliche Liebschaften neben den Ehen durchaus normal und kein Stoff für Konflikte waren. Doch Hanak nahm die Annäherungsversuche von Begare entweder nicht wahr, oder sie war ihm gleichgültig. Umgekehrt fasste die Tergun dies als persönliche Beleidigung auf. Sie behauptete von da an, Hanak nehme sich bei der Jagd die besten Stücke, ohne den Häuptling um Erlaubnis zu fragen. Eines Tages wurden bei ihm tatsächlich die Zähne eines Tigers gefunden, die als besonders wertvoll gehandelt wurden.

Daraufhin zogen es Hanak, Jakat und ihre drei Söhne vor, in das ziemlich undurchdringliche Land zwischen dem Stammesgebiet und dem Meer zu fliehen und sich ähnlich fortzubewegen, wie es Clara und ich getan hatten.

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