Der vergitterte Himmel

Ekkard Brewig, 24. Dezember 1998

Ein kleines Mädchen, bessere Verhältnisse, weiße Pelzstiefel, weißer Mantel mit weißer Pelzbordüre tänzelt auf einer Schneeplatte kaum größer, als der angedeutete Tanzschritt. Die Kleine lächelt. In ihren Händen trägt sie einen Christbaum, ein Zwerg unter seines Gleichen. Beigefarbene Fingerhandschuhe schützen vor der durch die Schneeplatte belegte Kälte und den Stichen der Tannennadeln. Wohlgenährt, mit rosa Pausbacken und blauen Äuglein entspricht sie dem artigen Mädchen von 1910. Eine weiße Pelzkappe drückt ihre blonden, auf die Schultern herab hängenden Haare um das kindlich gerundete Gesicht. Ein Pony–Schnitt läßt die Augen frei.

Das Kind steht draußen, denn vor der Gestalt spannt sich ein feines, goldenes Gewebe, gehalten durch einen Rahmen aus karminrotem Plastikband. Auf dieses wurde von sorgfältiger Hand ein Goldzackenband aufgebügelt. Der Vordergrund legt die Vermutung nahe, daß eine Türe dargestellt wird, mit Verstärkung durch ein einbruchssicheres Gitter.

"Frohe Weihnachten" steht in goldenen, altdeutsch gestylten Lettern unten auf der Karte.

Wer immer noch zweifelt, dem wird spätestens an den Flügeln am Rücken deutlich, daß dort ein Engel steht, ein Weihnachtsengel!

nachdenkliches Engelchen Sulima erwacht, als dumpfes Knattern durch die Ritzen der Fenster hereinbricht. Kurz darauf knallt es überall um sie und das Haus mit ihrem Schlafgemach. Dazwischen mischen sich Geräusche von berstendem Mauerwerk. Glas zersplittert. Ein Luftzug bläht den Vorhang. Durch zackige Löcher blinzelt ein trüber Oktober–Morgen. Kälte kriecht unter Sulimas Bettdecke. Ihre Glieder zittern. Unbeschreibliches Entsetzen erfüllt ihr kindliches Herz.

Und wieder schallt dumpfes Knattern herüber, es pfeift eigentümlich, dann folgt Detonation auf Detonation. Der Vorhang gleicht inzwischen mehr einem Sieb. Es ist heller geworden. Sulima hört jemanden im Zimmer schreien. Verstört schließt sie ihren Mund. Das Schreien hört auf. "Warum kommt niemand", denkt sie und ruft lauthals: "Mama!"

Seltsam klar nimmt sie die nächste Serie von Knallen, Pfeifen und Explosionen wahr. Der Putz bröckelt von der Wand. Irgendetwas scheint durchs Fenster hereinzufliegen und in der jenseitigen Wand stecken zu bleiben, etwas Widerliches voller Heimtücke, bereit zu verletzen und zu töten.

Glas splittert, Mauern brechen, Dächer stürzen ein, jemand schreit, Explosionen, das Schreien endet. Hastige Schritte trappeln, andere rennen. Alles entfernt sich. Wieder Explosionen. Sulimas Spielecke versinkt mit einem knirschenden Krachen in einer Stauwolke. Für die nächste halbe Stunde taucht Sulima unter ihre Bettdecke, schluchzt und hält sich die Ohren zu.

Ihrem kleinen Gemüt entgeht, wie das Getöse langsam aufhört, wie schwere Soldatenstiefel draußen vorbei stampfen, einzelne Schüsse fallen, haßerfülltes Lachen erschallt, und schließlich alles in Stille versinkt.

Irgendwann hört ihr Schluchzen auf und die Augen geben keine Tränen mehr her. Niemand kommt außer dem grausigen Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Mit fiebrigen Augen schaut sie ins Zimmer oder was davon übrig ist. Eine Wand fehlt, die Zimmerdecke hängt schräg und läßt nur einen flachen Winkel über ihrem Bett frei. Der Stuhl mit ihren Kleidern ist umgekippt. Ein Bein ist zersplittert. Überall liegen Brocken herum und ein feiner Staub bedeckt die gesamte Szene. Er macht das Luft Holen zur Qual. Sulima kriecht unter ihrer Bettdecke hervor, die klemmt. Ein dicker Brocken miteinander vermörtelter Ziegelsteine hält sie am Bettrand fest.

Sulima schüttelt den Staub aus ihrem Haar. Wie ein Automat zieht sie sich an. Sie merkt es nicht einmal. Nur Waschen und Zähneputzen sind entfallen. Aber auch diese Tatsache dringt nicht bis in ihr Bewußtsein. Staub und Angst schnüren ihr die Kehle zu. Durch einen breiten Mauerspalt kriecht sie ins Freie. Dann, einem inneren Impuls folgend, rennt sie in Richtung des nahen Waldes, bis ihr fast die Lunge platzt. Mit unerträglichem Seitenstechen trottet sie weiter. Aus einem grauen Himmel fallen die ersten Schneeflocken in diesem Jahr. Es ist kälter als gestern und in der Luft schweben Staub und ein beißender Gestank nach verbranntem Kunststoff.

Diese Trostlosigkeit hinter ihr gibt keinen Laut mehr her. Nach einiger Zeit allerdings hört Sulima, wenn sie ruhig stehen bleibt, wie die Schneeflocken leise knisternd auf die Erde sinken. Ab und zu knackt es gefährlich in den zerschossenen Häusern, Wände stürzen um, Dächer sinken ein. Allmählich werden hinter ihr Fußstapfen sichtbar. Sie setzt stumpfsinnig Schritt vor Schritt, heraus aus dem Dorf, nur weg von dem Staub, dem Gestank und den Ruinen.

Irgendwo vor ihr jault ein Automotor. Räder drehen durch; dann greifen sie wieder. Ein Jeep nähert sich. Vorne flattern zwei blaue Wimpel und hinten wippt ein langer, dünner Metallstab, den jemand mit einer Schnur zu einem Bogen geformt und so festgebunden hat. Andere Menschen! Die Wimpel sehen so lustig und tröstlich aus, daß Sulima wieder Hoffnung schöpft. Ihr Blick verschwimmt erneut in Tränen, und pinkeln muß sie auch.

Der Jeep hält an. So nahe flößt ihr die Matsch–Farbe des Wagens wieder Angst ein. Auf der Haube vorne ist ein riesiges Gewehr aufgebaut. Ein Soldat blickt angestrengt in die andere Richtung. Ein anderer mit einem langen Mantel und grauen Lederhandschuhen steigt aus. Er schaut sie direkt an. Er lächelt ungeschickt aber nett unter seiner Schirm–Mütze. Er streckt ihr seine Handschuh–Hand entgegen. Sulima steht starr.

Der in dem langen Mantel sagt etwas, aber sie kann nichts verstehen. Der Fahrer ruft ihr etwas zu, was "Komm!" heißen könnte, aber er spricht das so komisch aus, daß sie Angst bekommt, nie wieder etwas zu verstehen. So heult sie lauthals los, ein verlorenes Kind auf einsamer Straße im Leiden der Fremde.

Der Ausgestiegene sagt so etwas wie: "Na, Na, ..." und dann noch etwas, was sie wieder nicht versteht.

Plötzlich beugt sich der Mann zu ihr herunter, faßt sie um die Hüften, nimmt sie auf den Arm, legt sie an seine Schulter, wie das Papa immer macht. Dann klettert er mit ihr ins Auto. Sulima hat Angst vor den Soldaten und sie weiß nicht recht, ob es überhaupt richtig war, sich dem Auto zu nähern. Aber was wäre ihr sonst geblieben? Vielleicht wissen ja die Männer, wo Mama und Papa sind. "Und überhaupt", sagt sie sich. "Was macht es schon, wenn die Welt sowieso kaputt ist!" Sie seufzt tief. Ein Schluchzen entringt sich ihrer gequälten Seele. Sie spürt eine Hand, die ihr über den Rücken streicht. Sie muß immer noch pinkeln.

Mit singendem Motor und mahlenden Rädern fahren sie den Weg zurück, den Sulima fast bewußtlos aus dem Dorf heraus gelaufen ist. Mehrfach bemerkt sie, wie die Männer den Kopf schütteln. Ihre Lippen werden dabei jedesmal zu dunklen geraden Strichen. Der Mann neben ihnen macht Fotos vom Dorf.

Als sie an dem vorbeifahren, was einmal "ihr Haus" gewesen ist, sagt sie zu dem Mann auf dessen Schoß sie sich vergraben hat (in ihrer Sprache): "Ich muß mal!". Die Männer sprechen miteinander, dann hält der Fahrer den Wagen an.

Endlich kann sie sich in eine Mauernische hocken. Sie bemerkt erleichtert, daß die Männer weg gucken. Wenn man halbwegs unbeobachtet pinkeln kann, sieht die Welt zwar nicht besser aus, aber man kann sie wenigstens ertragen. Sie bemerkt, wie die Männer nacheinander irgendwo verschwinden und eine Minute später wieder auftauchen. "Also die auch!" denkt sie. Sie ist richtig erleichtert, daß es etwas gemeinsames zwischen ihnen gibt. Der Kloß in ihrem Hals verlangt nach einem herzhaften Weinen, das sich nun Bahn bricht. Langsam geht sie wieder zum Auto und hofft, daß ihre Tränen bis dorthin aufhören. Die Männer klettern wieder auf ihre Sitze. Der Mann am Gewehr wird abgelöst. Nun darf der auch mal verschwinden. Danach geht es weiter.

Im Auto ist es warm. Die Männer reden wenig. Sie darf eine Weile vorne mitfahren. Dort ist ein Kasten, mit vielen Knöpfen, und einigen Lämpchen. Ab und zu fängt dieser Kasten fürchterlich an zu rauschen und eine Stimme quakt etwas. Die Männer sagen auch etwas, dann ist wieder lange nichts zu hören. Dann darf sie wieder auf dem Schoß des Mannes sitzen, der sie anfangs hochgenommen hat. Draußen ist jetzt alles weiß. Ab und zu ziehen Ruinen vorbei, ein Haus brennt noch.

Der Mann hat auf seine Brust gezeigt und gesagt: "Soiren" – oder so ähnlich. Lange hat Sulima geguckt und nachgedacht. Dann hat sie auf ihre Brust gezeigt und hat: "Brust" gesagt. Die Männer haben erst zu dem Fahrer geguckt. Der hat etwas gesagt und gegrinst. Dann haben die Männer gelacht. Der Fahrer hat dann in ihrer Sprache gesagt: "Nein! – Name?" Sulima hat verstanden. Ach so. Und dann hat sie: "Sulima" geflüstert. Sie muß ihren Namen dann noch zweimal wiederholen, bis die Männer ihn bei dem Motorenlärm verstanden haben. Der Fahrer will dann noch etwas wissen – er spricht nur in einzelnen Worten: "wie – weiter". Sulima hat keine Ahnung, was damit gemeint sein könnte. Sie hat Angst, etwas falsch zu machen und weint. "Na, na" sagen die Männer. Und der Fahrer versucht es mit: "Mama, Papa – Name?". Sulima versteht nicht. Sie sagt die Namen von Mama und Papa. Der Mann neben ihr schreibt etwas in ein kleines, schwarzes Buch. Noch einmal wendet sich der Fahrer an sie: "Nach – Name, im Dorf sagen?" Sulima begreift, daß sie sagen soll, wie ihre ganze Familie heißt. Schneidend, wie mit einem Messer, geht es ihr durch und durch: ihre Familie?! Was ist mit den anderen? Sie schluchzt auf, weint wieder und schluchzt erneut. Sie schlingt ihre Arme um den Hals ihres neuen, väterlichen Freundes und braucht dringend ein Taschentuch. Der Mann reicht ihr unaufgefordert ein Stück weiches Papier aus einer Packung. Sie putzt sich die Nase, dann gibt sie den Namen ihrer Familie preis. Der Kollege neben ihrem Vaterersatz notiert.

Nach einem weiteren Kilometer durch eintönige weiß–graue Landschaft hat Sulimas kleine Seele genug erlebt, gesehen, gelitten und geweint. Das Leid findet sein vorläufiges Ende.

Sulima erwacht davon, daß sie jemand in einen viel zu großen Stuhl plumpsen läßt, von dem sie fast herunter gekippt wäre. Ein Becher mit heißem Kakao steht vor ihr auf dem Tisch. Ein Blick zum Fenster sagt ihr, daß es inzwischen Abend geworden ist. Sie findet ein Bilderbuch und beginnt zu blättern. Auf dem ersten Bild schweben kleine Mädchen mit Flügeln um eine Tanne. Aus dem Grün leuchten kleine Lichter. In roten Kugeln spiegelt sich ihr Licht. Die schwebenden Mädchen tragen irgendwelche Päckchen in ihren lächerlich kleinen Händen. Aber die Mädchen sehen nett aus in ihren bauschigen weißen Kleidchen. Sulima nippt an dem Kakao. Leider ist der noch zu heiß zum Trinken. Sie stellt den Becher weg und schaut sich das nächste Bild an. Ein Mädchen in ihrem Alter, aber viel schöner gekleidet, steht dort. Es hat Flügel auf dem Rücken und trägt eine kleine Tanne. Auch daran sind rote Kugeln und zusätzlich ein blaues Päckchen befestigt. Das Mädchen auf dem Bild trägt eine weiße Pelzkappe – so eine hätte Sulima auch immer gerne gehabt. Die würde nicht so kratzen, wie die Wollmützen von Mama – Mama! Sie seufzt und das Bild vor ihr verschwimmt vor Tränen.

"Na, na", sagt eine Männerstimme, die zu ihrem neuen Freund gehört, der eine Sprache spricht, die sie nicht versteht. Er sieht jetzt ganz anders aus. Er hat einen Glatzkopf mit schütterem, grauen Haarkranz. Er ist viel älter als die anderen Soldaten. Alle Männer tragen Uniformen. Nun setzen sie sich um den Tisch. Entweder essen sie etwas, oder sie beraten. Sulima spürt, daß es auch um ihr Schicksal geht. Dann versucht der Fahrer, den sie ohne Käppi und Jacke fast nicht erkannt hätte, mit ihr zu sprechen.

"Morgen", sagt er und macht eine überlange Pause, "Du", er zeigt auf sie, "und wir"; seine Hand wandert zu den anderen drei Männern, die sie schon kennt, "fahren – nach – Prisza – deine Mama und deinen Papa suchen. Du verstehst?" Sulima nickt. Sie war schon mal in Prisza. Dies ist die Hauptstadt in ihrer Gegend. Dorthin muß man, wenn man einen Doktor braucht oder "Papiere". Meistens sind sie nach Prisza gefahren, wenn Papa von "Papieren" gesprochen hat. Zum Doktor sind sie nur einmal gefahren, als sie hohes Fieber gehabt hat. Sie versucht zu lächeln. Ja, sie versteht! Das bedeutet, daß die Männer die Hoffnung haben, ihre Leute zu finden. Und heute?

Aber das Problem haben Soeren und die anderen bereits gelöst. Sulima bekommt eine große Kiste voller Decken. Die riechen zwar etwas merkwürdig. Aber frieren wird sie wenigstens nicht. Soerens Kollege, der Fahrer, liest noch eine Geschichte aus einem Buch in ihrer Sprache vor. Sie muß kichern, weil der Mann ihre Sprache so komisch betont. Es wird ihre erste Nacht im Leben, ohne Gute–Nacht–Kuß von Mama oder Papa. Mit einem Herzen, in dem wieder neue Hoffnung keimt, schläft sie ein. Die Geschichte hat sie schon gar nicht mehr verstanden, obwohl sie die Worte noch gehört hat.

Die Fahrt am nächsten Tag hat Sulima fast komplett verschlafen. Als sie ankommen, ist es Nachmittag und mindestens drei Armeeposten später. Soeren, Sulima und die anderen steigen aus. Der Fahrer – er heißt Jens – spricht und gestikuliert mit einem fremden Soldaten oder Polizisten. Sulima kennt sich da nicht so genau aus. Dann gehen sie in ein großes Gebäude. Ein fremder Soldat begleitet sie und führt sie in ein Zimmer, das vor lauter Menschen überquillt. Hinter einem Tresen sitzt ein Mann, der mit den Leuten eine Weile spricht, alles nicht glaubt und nach "Papieren" fragt. Ganz selten macht er einen Stempel auf ein Blatt Papier. Dann können die Leute fortgehen. Im Raum sind auch andere Kinder, vor allem aber Leute, die ihre Sprache sprechen. Aber Mama und Papa sind nicht dabei. Jens hat gesagt, sie soll die Leute fragen, wohin die Leute gegangen sind, die in ihrem Dorf gewohnt haben. Sulima hat gefragt, aber niemand wußte von den Leuten aus Sulimas Dorf.

Sulima und ein paar andere Kinder haben einen Papierkorb gefunden und ausgeleert. Stundenlang haben sie zusammengeknülltes Papier in den liegenden Korb geschossen. Irgendwann ist es Abend geworden. Jens ist ein paarmal weg gegangen und wieder gekommen.

Eine halbe Treppe tiefer gibt es eine Toilette. Sulima hat die Toilette nur benutzen dürfen, wenn der fremde Soldat dabei bleibt. Der Soldat hat fast den ganzen Nachmittag nicht von der Toilette weg gekonnt. Denn irgend jemand von den vielen Leuten und Kindern mußte immer dorthin. Irgendwann, hat der Mann hinter dem Tresen einen Stempel auf ein Papier gedrückt. Dann sind Jens, Soeren und die anderen in ein "Quartier" gefahren. Dort haben sie geschlafen, Sulima wieder in einer Kiste mit Decken, die andern in Betten. Die Decken dort haben genauso ausgesehen. Das "Quartier" hat ganz jämmerlich nach Mottenkugeln gestunken – so wie in Mamas Schrank auf dem Speicher. Alle haben am nächsten Morgen Kopfschmerzen.

Am nächsten Morgen haben ein paar Frauen von Kämpfen in der Nähe berichtet. Soeren hat wieder schmale Lippen bekommen. Sie haben Sulima wieder in das Gebäude von gestern gebracht. Sie solle dort horchen, wohin die Leute aus Sulimas Dorf gegangen sind. Dann sind Jens und Soeren und die andern "auf Inspektion" gefahren.

Irgendwann während des Tages ist ein Mann mit blutverkrustetem Gesicht und mit Handschellen gefesselt hereingeführt worden. Ihn hat Sulima wiedererkannt. Es war der Schuhmacher Nohic aus dem Nachbardorf, der zur Miliz gegangen ist. Papa hat davon erzählt. Nohic hat Sulima auch wiedererkannt. Nohic hat ihr und den anderen erzählt, daß die Leute aus Sulimas Dorf alle in einem Lager in der Nähe untergebracht seien.

Danach geht alles sehr schnell. Sulima und ein paar andere, werden barsch aufgefordert, "ihre Siebensachen" zu packen und mitzukommen. Sulima sagt, sie möchte lieber auf Soeren, Jens und die anderen im Jeep mit den blauen Fähnchen warten. Dies hätte sie besser nicht geäußert. Denn nun haben es die Soldaten plötzlich sehr eilig. Ein Lastwagen fährt vor. Mit Stößen ihrer Gewehre und mit kurzen Knüppeln werden die Menschen auf den Laster getrieben – Sulima auch. Keine zehn Minuten später schaukelt der Laster über die Landstraße. Ein eisiger Wind treibt den Menschen auf der Ladefläche Schneeflocken ins Gesicht. Sulima friert, daß ihre Zähne klappern. Die Fahrt dauert zwar nicht lange, aber 30 unendliche Minuten reichen durchaus, daß man sich nachher nicht mehr auf den Beinen halten kann. Als der Laster steht, will sich Sulima wie die anderen auch von der Ladefläche herunter rutschen lassen. Ihr Plan, auf ihren Füßen zu landen mißlingt kläglich. Sie sackt einfach auf die Knie und dann sinkt sie zur Seite. Ein Soldat greift sie mit einer Hand am Rücken, reißt sie hoch, stellt sie auf die Füße und hilft mit dem Gewehrkolben nach. Sie stolpert vorwärts. Halb betäubt hört sie so etwas wie: "Geht doch!" und "Dumme Gans!".

Minuten später stehen sie alle gemeinsam hinter einem sehr hohen Zaun, der oben eine riesige Rolle Stacheldraht besitzt. Außerdem ist jeder zweite Draht mit Isolatoren befestigt. Davor verläuft ein zweiter Maschendrahtzaun, der fast nicht weiter auffällt. Daran sind gelbe Schilder mit roten Blitzen befestigt. Zu beiden Seiten des Tores, das eben hinter ihnen geschlossen worden ist, verlieren sich die Zäune im Unendlichen.

Die Neuankömmlinge müssen sich in einer Reihe aufstellen. Hinter einem Fensterchen nimmt jemand Namen und Anschrift auf. Sulima kommt kaum an das Fensterchen heran. Jemand schiebt ihr einen Koffer unter die Füße. Aber sie kann nicht darauf klettern, einfach weil ihr die Beine nicht mehr gehorchen. Ungeduldig trommelt der Mann hinter dem Fenster auf seine Papiere. Endlich kann sie den Koffer erklimmen. "Du heißt?" – "Sulima" antwortet sie. "Familienname?" – Na und so weiter.

Dann ist Sulima fertig. Stumm geht sie ins Lagerinnere. Aber das ist ganz falsch. Ein Soldat befiehlt: "Stopp!" und ein Schuß läßt vor ihr Steine hochspringen. Die Kugel entfernt sich mit einem seltsamen Sirren. "Dahin, verdammt nochmal!" brüllt der Soldat. Der Soldat zeigt auf ein flaches Gebäude.

Dort müssen Sulima und die anderen ihre Kleider ablegen. Sulima geniert sich, aber alle gehorchen. Dann werden sie mit eisigem Wasser abgespritzt. Besonders die Po–Falte und ihr Gegenstück vorne sind bevorzugt Stellen des Wasserstrahls. Sulima spürt inzwischen fast gar nichts mehr außer der Kälte. Sie sieht nur, wie einzelne Finger und ihre Zehen eigenartig weiß werden. Dann fällt sie einfach um.

Das nächste, was sie wahrnimmt, ist das Gesicht von Mama. Mama sitzt irgendwie und Sulima sitzt auf Mamas Schoß. Sie schlottert. In Füßen und Händen toben heiße Nadeln und ihr Kopf droht zu zerspringen. Sie hört sich selbst weinen, ja schreien. Sie ist so froh, Mama wieder zu sehen. Aber sie fühlt sich elend. Nach ein paar Minuten lassen wenigstens die Schmerzen in Händen und Füßen soweit nach, daß es nur noch brennt. Aber der Kopf will nicht besser werden. Aber sie kann Mama zuhören: Die Überlebenden des Dorfes sind alle hier. Mama und Papa sind auch dabei. Aber es geht ihnen nicht gut. Es gibt zu wenig zu essen, zu wenige Decken und kein Heizmaterial. "Einige sind schon erfroren", ergänzt Papa.

"Jeden Tag kommen die Inspekteure" sagt Mama. "Dann müssen alle in die Häuser, nur die Kräftigen und Gesunden dürfen im Freien arbeiten, damit die Inspekteure sehen, daß es allen gut geht. Sie kontrollieren die Namenslisten und fragen nach Kranken. Aber irgendwie gibt es weder Kranke noch Tote". Papas Gesicht sieht alt aus und schmal. Seine Lippen bilden einen Strich, so wie bei Soeren, als sie durch die zerstörten Dörfer gefahren sind.

Um 4 Uhr nachmittags sind die Inspekteure ans Lagertor gekommen. Alle versuchen nach draußen zu schauen. Ganz unten ist noch ein Eckchen frei. Trotz ihrer Kopfschmerzen erobert sich Sulima diese Ecke. Schon von weitem kann sie Soeren erkennen. "Soeren" ruft sie, "das da ist Soeren, den kenn ich!". Ein dumpfer Plumps kündet von Sulimas Ohnmacht. Ihr Kopf macht die Anstrengung nicht mit.

Die Inspektoren bitten diesmal die Lagerleitung um die Genehmigung, das Lager komplett zu besichtigen. Zunächst löst dieser Wunsch Befremden aus, da dies "doch ungewöhnlich sei". Doch Soeren ist ein erfahrener Soldat. Und er hat es bei der Lagerleitung mit Soldaten zu tun. Nein, er befiehlt diesen einheimischen Männern nichts. Er verweist auf gewisse internationale Abmachungen. Seine Pflicht ist es, eine gewisse Zeit hier anwesend zu sein. Bisher habe es keine Veranlassung zu Beschwerden gegeben. So erfüllen also beide Seiten ihre Pflichten. Soerens Wagen erhält eine schwer bewaffnete Eskorte zum Schutz der Inspektoren. Beide Seiten wissen um den Zweck der Eskorte. Aber niemand verliert darüber ein Wort. In den internationalen Abmachungen steht nichts davon, wie die Kontrolle der Lager auszusehen hat. Das Militär hat seine eigenen Spielregeln.

Beim Überfliegen der Namensliste hat Soeren natürlich Sulimas Namen gefunden. So kennt er die Barackennummer.

Zunächst besichtigen die Inspektoren und ihre Eskorte die Krankenstation. Sie ist einfach eingerichtet aber zweckmäßig. Niemand ist dort. Die Station sei ungeheizt, weil niemand dort liegt. So die Erklärung der einheimischen Soldaten. Soeren holt den internationalen Vertragstext heraus. Dort steht, daß Lazarette von der internationalen Staatengemeinschaft finanziert werden. Insbesondere Verbrauchsmaterial wie Verbandszeug, ..., Heizmaterial, ... Die Soldaten verstehen. Und weil sie gut verstehen, gehen sie sofort an die Arbeit.

Als Soeren wiederkommt, hat er eine kleine Patientin im Arm, ein besorgtes Elternpaar im Schlepptau, einen Fall von Durchfall, einen mit hohem Fieber und einige andere. Er kennt sich nicht so genau aus mit Krankeiten, was hier jedoch von Vorteil ist. So kommen wenigstens die schlimmsten Fälle in den Genuß von Betten und ein bißchen Wärme.

Er bedeutet den Soldaten, schleunigst einen Arzt und einiges Pflegepersonal zu rekrutieren. Bis sechs Uhr abends kann Soeren einen einwandfreien Bericht zu den Akten nehmen. Er verspricht, am nächsten Tag wieder zu kommen. Seine widerwillig zur Kenntnis genommene Hoffnung, alle Patienten bei bester Pflege möglichst gesund wiederzufinden wird nicht enttäuscht.

Weihnachten

Als Sulima stirbt, liegt es nicht an der Pflege, sondern an den Folgen der Fahrt im Lkw mit der anschließenden Kältetortur. Soeren erreicht durch ein ernsthaftes Gespräch zwischen Soldaten, daß diese Tortur der Vergangenheit angehört. Es brauchte nur einmal gesagt zu werden. Es ist Heilig Abend. Das Bilderbuch, in dem Sulima am ersten Abend geblättert hat, liegt mit seinem zweiten Bild offen auf dem Tisch. Jemand hat ein feines, goldenes Gewebe mit Hilfe eines Rahmens aus karminrotem Plastikband auf dem Bild befestigt. Zusätzlich ziert ein Goldzackenband diesen Rand. Darunter hat jemand mit altdeutschen Lettern "Frohe Weihnachten" geschrieben.

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