Matthias ..., Seite 2

Irgend etwas in ihrer Stimme war anders geworden, leiser, angenehmer. "Worauf?" fragte ich. Sie legte ihren Kopf leicht schief, richtete ihr ebenmäßiges Gesicht auf einen Punkt rechts hinter mir und sah kurz dort hin. Dann blickte sie mich aus ihren Augenwinkeln heraus an - sie, eine Frau, ich, ein Mann. Ich spürte heißes Begehren und kalte Furcht in einer warmen, angenehmen Welt, die voller Gefahr stecken mochte.

Instinktiv riskierte ich meinerseits einen Blick über meine rechte Schulter. Ein alter Mann näherte sich uns. Ich werde nie erklären können, was sich vor meinen Augen abspielte. Der gebeugte Alte schaute mich an, dann die junge Frau mir gegenüber. Er lächelte, legte seinen Wanderstab auf den Sand, zog nacheinander Jacke, Hemd, Hose und Unterhose aus. Schließlich streifte er seine Socken ab - und verschwand im Wasser. Ein Ring aus Wellen huschte über den See.

Alles lag wieder im ruhigen, goldenen Licht des vergehenden Nachmittags. - "Komm mit!" Ihre Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie trat auf mich zu, streckte ihre offene Hand schräg nach unten aus. Ich ergriff sie meinen Instinkten folgend, und beide rannten wir auf die Hütte zu.

Innen weitete sich die Hütte zu einem stattlichen Gebäude mit Atrium. In dessen Mitte plätscherten die Fontänen eines Springbrunnens, ein Sechseck aus Granit. Darin stand eine Säule schneeweißen Marmors, nicht besonders hoch, geschaffen für eine Figur. Diese aber fehlte.
Die junge Frau zog ihre Lederhose aus, und legte sie auf den breiten Brunnenrand. Sie setzte sich, strich eine feuchte Strähne aus meinem Gesicht und strahlte mich an.

"Du bist der Gott, auf den ich so viele Millennien gewartet habe!" Die Betonung ließ keinen Zweifel zu. Die Feststellung war endgültig. Etwas vorsichtig wollte ich wissen "Woran hast du denn das erkannt?" - "Niemand konnte bisher meine Flammen löschen - niemand!"

An diesem sonnigen Nachmittag löschten wir beide noch ganz andere Flammen. Darüber wurde es Abend. Abend und Nacht gebaren einen neuen Tag.

Das Lager an meiner Seite war frisch bezogen und leer. Schlaftrunken stolperte ich zum Fenster. Eine fahle Sonne streute erste Stahlen über das Nachbardach. Das Dunkel über dem Innenhof lichtete sich kaum, aber mir war, als wenn jetzt eine Figur auf dem Sockel stünde.

Ich versuchte mich an ihre letzten Worte zu erinnern, gestern, kurz vor dem Einschlafen: "Ich erwarte eine neue Welt, geboren aus Liebe, bis dahin ...". Ich hatte kaum mehr zugehört, und das Allerletzte war schon jenseits meiner Träume.

Unsere Wege trennten sich gegen Abend. In einer kürzlich erschienen Todesanzeige eines Matthias ... las ich die Bibel-Zeilen:

"Ich bin die Auferstehung und das Leben.
Wer an mich glaubt, wird leben,
auch wenn er gestorben ist;
und jeder der lebt und an mich glaubt,
wird nicht sterben in Ewigkeit."

Ekkard Brewig, 2. November 2002


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