Die alten Herren, Seite 3
Als der Abend dem Morgen Platz machte, kannte Rolf auch Manuelas Geschichte. Wie sich herausstellte, kannte sie den hinteren Gartenteil von Rolfs Großvater sehr gut. Denn in den letzten Tagen der Ernte hatte sie dort geholfen, Äpfel und Birnen zu ernten, da ihr Großonkel den Herzinfarkt erlitten hatte. Dann plötzlich explodierte Rolfs kleine Welt förmlich, als Manuela ihn flüchtig küsste, scheu, aber unmissverständlich.
Später gingen sie Hand in Hand zum Hause des Großonkels, wo Manuela für ein paar Tage wohnen sollte, um im Hause der Großtante zu helfen. Der Mond lugte durch die herbstlichen Zweige der alten Obstbäume und in den Hecken raschelten die Mäuse. Von ferne sang sich die leiser werdende Musik vom Rummelplatz in ihre Herzen. Ein letzter Fetzen, dann schloss sich die klare Stille der Nacht um Rolf und Manuela. Ein langer Kuss beendete den Abend, und begrüßte den neuen Tag.
Rolf ging, bevor er zu seiner Mutter heimging nochmals an Großvaters Haus vorbei. Alles dunkel und totenstill. Also begab sich Rolf nach Hause. Lange noch fühlte er den Abschiedskuss und erschauerte, wenn er die Lichter der Nacht wahrnahm, die ihn an die Glanzpunkte in Manuelas dunklen Pupillen erinnerten.
Am Mittag gewahrte Rolf Klingeln, Worte wurden gewechselt. Dann erschien seine Mutter und teilte ihm mit, dass der Nachbar in der Nacht auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben sei. Sie gehe jetzt rüber, um der Nachbarin beizustehen.
Rolf stand auch auf, wusch sich den Schlaf aus den Augen, kleidete sich auf "fein". Auch er ging 'rüber. Er kondolierte der alten Nachbarin, wie sich das eben so gehört. Danach hielt er Ausschau nach Manuela, die ihm vom Einkauf kommend im Vorgarten der Nachbarin begegnete. Mehr als zu einer flüchtigen, mehr durch Trauer bestimmten Umarmung reichte es im Moment nicht. Aber sie verabredeten sich für den Nachmittag vor dem Obstgarten des Johannes Kerp.
Rolf wanderte allein nach Hause zurück. Er fühlte sich für den Moment leer und nutzlos, ein Zustand, den er im Erinnern an Manuelas Küsse nicht gut ertragen konnte. Er zog ruckartig die Hand mit dem Schlüssel zur mütterlichen Wohnung zurück: Großvater! Er hatte sich den ganzen Morgen nicht um ihn gekümmert. Entschlossen, dies zu ändern, stapfte er die paar Häuser weiter zu Großvaters Haus. Eine beklemmende Stimmung herrschte ums Haus, im Garten bis zur Brombeerhecke.
Er klopfte an die Haustür - niemand öffnete. Er kramte seinen Schlüssel heraus, schloss auf und rief: "Opa?" - Nichts, keine Antwort!
Mit einem dicken Kloß im Hals Öffnete er schließlich die Schlafzimmertür. Opa Kerp lag friedlich in seinem Bett, auf dem Rücken, wie immer. Doch seine Hände waren kalt und starr und er schaute mit offenen Augen durch die Zimmerdecke direkt in den Himmel über ihm.
Mit Tränen in den Augen wählte er die Rufnummer, unter der seine Mutter bei der Nachbarin zu erreichen war. Manuela war am anderen Ende der Leitung. Mit erstickender Stimme würgte er fast hervor: "Opa ist gestorben" -

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