Das Leben nach dem Tod

Montag

Meister Hein stand am Fenster und starrte auf den kleinen Hof vor seiner Werkstatt. Draußen rannten seine Kinder mit denen der Nachbarn um die Wette. Durch die offene Tür schrillten ihre Stimmen herein. Zusammen mit seinen Sorgen mischten sie sich zu einem Gewirr schwermütiger Gedanken, das ihn hatte innehalten lassen.
Schuhe waren zur billigen Massenware verkommen. Es gab kaum noch jemanden, der Schuhe reparieren ließ. Die Kosten einer Reparatur standen in keinem vernünftigen Verhältnis zum Neupreis - und vor allem: Danach hatte der Kunde ja nur seine alten Treter wieder. Er hatte ja Verständnis dafür, dass seine Kundschaft ausblieb! Aber er und seine Familie mussten von seiner Hände Arbeit leben - und natürlich von dem, was seine Frau noch erarbeitete. Gleichwohl würde er die Werkstatt aufgeben müssen und eine Lohnarbeit aufnehmen.

Dienstag

Am nächsten Tag hatte sich die Szene in keiner Weise geändert.
'Was werde ich machen müssen?' dachte Meister Hein bei sich: Schuhe besohlen, Oberleder annähen, Risse kleben oder nähen, ja, das war etwas. Oder einen "richtigen Schuh" selbst herstellen, das war auch etwas. In der Fabrik würde er die Dinger designen müssen, alle paar Monate der Mode anpassen! Dazu - das wusste er - dazu fehlten ihm die Phantasie und das Gefühl für Trends. Davon abgesehen kamen ihm andere Farben als Schwarz, Braun oder ein dunkles Weinrot wie Blasphemie vor.

Mittwoch

Als er wieder so dort am Fenster stand, und in den Hof blickte, betrat eine Gestalt im dunklen Zweireiher mit dezenten Nadelstreifen, kurz, ein Unternehmer seine Werkstatt. Ein diamantbesetzter Ring blinkte bescheiden am kleinen Finger der linken Hand, rechts war nur ein Ehering zu sehen. Die silbergraue Krawatte erinnerte an den Farbton der lichten Spinnweben an den Fenstern, wären da nicht ein Punkte- und Streifenmuster zu sehen gewesen.

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