(Zeit-Myzel, Seite 2)
Diese Welt erscheint vertraut und fremd zugleich. Wald kenne ich, aber diese Bäume sind keine Kiefern! Das Wasser ist einigermaßen warm - subtropisches Klima - sinkende Sonne - später Nachmittag - Stille. Leiser Wind wiegt die Bäume und Büsche am Ufer.
Meiner Meinung nach sollte ich tot sein, aus und vorbei, weg von einer Welt, die laut und voller Gestank gewesen ist. Und jetzt? Was ist nur passiert? Ich beuge mich über den Wasserspiegel. Ich sehe in das Gesicht eines Jünglings mit gut gestalteter Muskulatur, glattem Schwarzhaar und bronzefarbener Haut. Kräftige Hände klammern sich an einen überhängenden Ast. Dieser Mann im zappeligen Wasserspiegel hat nichts mit jenem zu tun, der vor einer halben Stunde überfahren und danach aufgefressen worden ist. Der war 60 Jahre alt, hatte graues Haar und weiße Haut. Außerdem war er viel größer. Ich bin Wetu Eleanor und kann mich nicht an meinen vorherigen Namen erinnern, soviel ich mein Hirn zermartere.
Was macht man in einer fremden Welt? Ich werde Hunger haben, Nahrung suchen und müde werden. Ich werde schlafen müssen. Am Boden? - Ich kann mir denken, dies nicht zu überleben, weil viele hier Appetit auf mich haben. Also auf einem Baum! Aber die Bäume hier sehen ziemlich feindselig aus, was das Hinaufkommen betrifft. Stämme ohne nennenswerten Halt lassen den Blick nach oben gleiten. Sie stemmen weit oben riesige, ausladende Kronen über mir. Ein dicker Ast lässt plötzlich los und beginnt sich noch in der Luft zu ringeln - genau über mir. Ich springe zur Seite. Eine Schlange plumpst in den Morast am Ufer und schnellt auf mich zu. Ich renne.
Als das Tier mich erreicht, springe ich so hoch ich kann und komme mit beiden Füßen rechts und links der dahin schießenden Schlange zurück auf den Boden. Mein Widersacher wendet. Jetzt gibt es offenbar zwei Ziele.
Er zögert einen winzigen Augenblick, lange genug, um dem Reptil mit einen mittelgroßen Stein den Schädel zu zertrümmern.Das Schlangenfleisch löst das erste Problem, erzeugt aber ein weiteres. Ich werde auf meine Beute aufpassen müssen. Merkwürdige Flugwesen, die an fliegende Drachen erinnern, nähern sich aus großer Höhe und nehmen mit weit ausholenden Schlägen ihrer Schwingen auf den umstehenden Baumriesen Platz. Sie haben Zeit - viel Zeit.
Wie ich so am Strand weiterlaufe, fallen mir Büsche mit sehr langen, geraden Ästen auf. Ich habe die Idee, mir darin eine Art Schlafkäfig zu bauen. Die Äste lassen sich mit einiger Anstrengung zu einem nach oben offenen Korb flechten. Bis ich damit fertig bin, ist die Sonne verschwunden. Ich esse etwas von der Schlange, soweit die eigenen Zähne reichen. Einfach ist dies nicht. Ich sammle noch Blätter und Gras, bereite mir eine erträgliche Unterlage und lege mich schlafen.
Langsam versinkt die neue Welt in der Dunkelheit einer klaren Nacht. Es raschelt unter mir. In der Ferne kreischt es. Äste knacken und Schatten huschen zwischen Seespiegel und Wald hin und her.
Zahllose Sterne wimmeln am Firmament, viel mehr als nach meiner Erinnerung. Sie bilden keine mir bekannten Sternbilder.

Epilog:
Gelegentlich streifen die Zeitlinien der Ewigkeit unsere kleine, reale Welt und lassen uns wie in Briefen teilhaben an den Abenteuern von Wetu Eleanor, seinen Feinden und Freunden. Sein Land liegt für uns jenseits der Zeit. Es war schon, als es die Sonne noch nicht gab. Es wird noch sein, wenn die Sterne ausgebrannt sind.

Ekkard Brewig am 1. Juli 2007 (zuletzt geändert 4.07.2007)

< zurück | blättern | weiter > | Home