(Tellerauge - Zeit-Myzel, Seite 6)
Diesmal kommt der Angriff zwar nicht überraschend, aber jede Bewegung meines linken Arms sticht, als wenn mir jemand ein Messer in die Schulter bohrt. In der Rechten den Stock erwarte ich den seltsamen Flieger. Besonders groß ist er nicht, vielleicht so, wie ein irdischer Hahn. Ein Federkleid hat er nicht. Die Flügelspannweite ist auffallen groß. Dieses Wesen ist ein langsamer Flieger und schlau genug, mich nicht direkt anzugreifen. Nein, er fliegt mich zwar direkt an, zieht dann aber hoch, legt die Flügel an und lässt sich wie ein Stein auf mich herab fallen, bei einem Vierbeiner eine gute Taktik, um dessen Rückgrat zu brechen. Bei einem Menschen wirkt dies eher hilflos. Denn trotz meiner Schmerzen arbeitet mein Hirn zur Zufriedenheit. Ein Schritt zur Seite und ein gezielter Schlag mit dem Knüppel erzeugen einen kleinen Fleischvorrat für diesen Tag. Lediglich meine Wunden an der linken Schulter machen mir Sorge. Was mache ich im Falle einer Infektion? Einen Arzt oder eine Apotheke habe ich nirgends gesehen.
Vorsichtig sehe ich mich um und schaue nach oben. Im Augenblick scheint alles ruhig zu sein. Ich klettere wieder zu unserem Schlafkäfig, biege die Äste auseinander, schiebe zunächst die Beute durch die Öffnung, dann mich selbst. Tellerauge schaut zuerst auf die Beute, dann auf meine Schulter. Dieses Wesen ist mir unheimlich. Denn er greift sich einige Blätter, kaut ein Wenig darauf herum und klebt sie mir auf die von den Krallen eingegrabenen Wunden. Erst brennt es, doch nach ein paar Minuten verwandeln sich die Schmerzen in ein dumpfes Pochen, das aber erträglich ist. Erst jetzt bemerke ich, dass ich völlig mit Blut besudelt bin. Tellerauge traut sich erst nicht, dann aber leckt er erst meine Hände und schließlich alles andere.
Sie werden sich fragen, wie man ohne Messer und Gabel ein totes Tier frühstückt. Diese Frage wird von Tellerauge beantwortet. Er beißt herzhaft in die Beute, und reißt Stück für Stück das Fleisch von den Knochen. Er lässt manches gute Stück für mich übrig. Das blutige Fleisch schmeckt leicht salzig und wider Erwarten gut.

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