Aufbruch (Zeit-Myzel, Seite 20)

Zu meiner Überraschung schreit und zetert mein neuer Bekannter wie verrückt. Er rennt weg und kommt mit einem Stock wieder. Heftig fuchtelnd versucht er das Rieseninsekt zu verscheuchen oder zu erschlagen. Ich kann seinen Schlag eben noch abfangen und den Stock wegschleudern. Schützend halte ich meine Hand über die ruhig sitzende Libelle und summe ein altes Kinderlied vor mich hin. Der Kleine versteht mich nicht, aber er zieht sich in den Schatten eines möglichst weit entfernt stehenden Baumes zurück und schmollt. Meine Stimme ist die einer Frau. Überrascht stelle ich fest, dass ich in einer Frau stecke. Die Libelle beißt und spuckt. Anschließend fühlt sich die Wunde an, als sei sie verätzt worden. Ich stöhne leise vor mich hin. Nach etwa einer halben Stunde meines Zeitgefühls hat die Blutung aufgehört und ein zäher Film liegt über dem Loch in meiner Haut. Die Libelle ist längst wieder verschwunden. Jetzt wäre es an der Zeit, den Bruch meines Armes zu versorgen. "Kannst Du mir Lianen holen?" rufe ich dem Knaben zu? Die großen Augen signalisieren Unverständnis. Ich brauche seinen Stock und so etwas wie ein Seil, um Arm und Stock zu umwickeln und damit zu schienen. Ich versuche, mir das Bild des geschienten Armes so genau wie möglich vorzustellen und blicke meinem Gegenüber dabei in die Augen. Der Kleine schaut zurück und scheint zu träumen. Plötzlich rennt er los. Ich höre ihn im Unterholz rascheln, kratzen und klopfen. Manchmal quietscht es, als wenn man eine Saite streicht. Nach einer Ewigkeit kommt er wieder und hat jede Menge Fasern über dem Arm liegen. "Ein überaus tüchtiger, nützlicher Knabe!", denke ich träge. Gemeinsam schienen wir meinen Arm, indem wir seinen Stock und ein paar weitere Äste und Zweige mit den Fasern um den Arm binden.

"Auf geht's nach Hause!", sage ich und rapple mich mühsam hoch. Mehr als mir lieb ist, stütze ich mich auf das Kind. Mir ist ausgesprochen schwummerig, die Magennerven revoltieren und stechende Kopfschmerzen habe ich auch.

Die Rundum-Szene dreht sich und bewegt sich träge weiter. Schritt für Schritt stolpern wir über den schmalen Pfad durch das Unterholz. Gelegentlich peitschen mir dünne Zweige ins Gesicht. Dann bin ich wieder etwas wacher. Nach einer reichlichen Stunde kommt eine Hütte auf Pfählen in Sicht. Als ich die Schwelle erreiche, kann ich nur noch auf das einfache Lager kriechen und mich in einen tiefen Schlaf fallen lassen. Die Szene wechselt. Der Knabe holt sich ein paar Nüsse und fängt an zu knabbern. Zeit vergeht. Ich sehe, wie sich ein Tellerauge der Hütte nähert. Ich habe den Gedanken an einen guten Freund noch nicht einmal recht angefangen, als das Kind eine Art Gatter vor die Türöffnung schlägt und mit einer Schlinge sichert. Er hat ersichtlich Angst vor dem Tellerauge. Also scheint es nicht generell so zu sein, dass die Menschen hier die Telleraugen schätzen. Sollten sie gelegentlich Menschenkinder jagen und essen? Mir gelingt es, mit dem Tellerauge vor der Hütte Kontakt aufzunehmen. Tatsächlich sucht es den Knaben und wähnt sich sicher, da die Mutter außer Gefecht gesetzt ist. Ich sende mein Bild und das "meines" Tellerauges sowie des Knaben und der Frau an meiner Seite. Die Frau hat kein Gesicht; ich habe mich ja nicht selbst sehen können und für weitere Bilderspielchen ist keine Zeit. Mein Erfolg ist, dass sich jenes Tellerauge scheinbar träumend von dem Eingang der Hütte niederlässt. Als Nächstes öffnet der Knabe vorsichtig die Tür. Er scheint dort seine Mutter zu sehen, mich, sich selbst und ein Tellerauge, das Blätter für die Mutter in der Hütte bringt. Offenbar lässt er das ganze Gefolge, wie er meint, in die Hütte.

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