Zeit-Myzel, Seite 56

Es wurde Zeit, die Geschichte irgendwie zu beenden. Die Morgensonne sandte schon deutlich steilere Strahlen durch das Blätterdach über mir, als die Pflanzenzunge endlich genug hatte. Sie verschwand Zentimeter um Zentimeter in ihrem Trichter zwischen ihren messerscharfen Blättern.

Zu meiner Überraschung blutete die Wunde nun nicht mehr. Ansonsten spürte ich nur meine blauen Flecke.

Leider musste ich noch mal ein paar Fußlängen hinab steigen, um von dort auf stärkeren Ästen in meine Richtung zu klettern: "In meine Richtung?" Die Frage war, wo lag das Gebirge, das von hier unten nicht zu sehen war. Die Morgensonne beleuchtete den Blättervorhang so, dass die Berge trotz ihrer Höhe nicht zu sehen waren. Folglich musste ich, um mich zu orientieren von Zeit zu Zeit einen der hohen Bäume besteigen, bis die Wand aus Blättern und Zweigen etwas durchsichtiger wurde.

Schregg saß irgendwo seitlich und futterte. Tellerauge hatte sich ins Dickicht oder in meinen Schlafkäfig der vergangenen Nacht zurückgezogen und schlief wahrscheinlich. Die Tiere hatten mich bisher immer noch gefunden. Manchmal hatten sie mich geführt. Aber offensichtlich hatten sie hier im dichten Grün auch keinen ausgeprägten Richtungssinn. Möglicherweise wollten sie sogar den Kontakt mit anderen Menschen boykottieren oder wenigstens verzögern. Die ganztägige Rast gestern hatte ja schon fast Lagerfeuer-Romantik.

An einem der Stämme bildeten die Äste eine einigermaßen bequeme Trittleiter. Ich hatte den Stamm noch nicht ganz erreicht, als mir meine Augen einen Streich spielten. Ich musste mich sehr festhalten und hielt in meiner Kletterei jäh inne. Hatte ich doch Nachwirkungen durch den Angriff der Pflanzenzunge? Wo würde ich eine Stelle finden, um mich hinzulegen?

Doch die Ursache war eine ganz andere. Ich hatte intensiv über die Orientierung in der Landschaft nachgedacht. Und es gab noch ein befreundetes Wesen, an das ich in meiner kleinen, grünen Kugelwelt gar nicht mehr gedacht hatte: Weit, weit über mir, irgendwo im Blau-Violett des Himmels musste sich der riesige Flugdrache Atros aufhalten. Er hatte mich wohl irgendwo unter sich gespürt oder gar aufgespürt und freute sich über den innigen Kontakt.

Die Landschaft unter mir wackelte, kippte und rollte, kam über mich und lag gleich wieder anständig unter mir. Gleichwohl rebellierten meine Magennerven. Die Flugrichtung änderte sich dauernd, bis mir klar wurde, dass Atros etwa über meinem Aufenthaltsort kreisen musste. Er übermittelte ausgelassene Freude vor allem über die heute über dem Wald heftig aufsteigende Luft, die ihn fast so hoch hinauf getragen hatte, wie die Bergspitzen. Er ließ mich teilhaben an dem atemberaubenden Blick auf das nahe und in der Tiefe nicht auslotbare Gebirgsmassiv.

Atros musste noch weitere Farben als ich sehen können. Denn die einzelnen Berge zeigten eine bunte Vielfalt an Farben,

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