Zeit-Myzel, Seite 73

Das Tier war nicht zu überlisten. Einer "wilden" Echse dieser Art in freier Umgebung zu begegnen, wäre tatsächlich das Todesurteil. Da hatte Clara vollkommen recht. Doch dieser hier folgte mir aus Gründen, die ich unklar ahnte. "Clara", sagte ich, "der Drache erinnert uns an die Vorbereitungen für die lange Winterzeit. Du musst mir unbedingt vom Winter erzählen und davon, wie der Stamm diese Zeit überlebt." Wie es schien, wollte Atros halb im Wasser liegend bei uns übernachten. Vielleicht war es normal, dass die Drachen nachts an solchen Seen übernachteten. Ich fragte Clara danach. Aber sie konnte sich nicht erinnern, hier an ihrem See je ein solches Ungeheuer gesehen zu haben. Auch in meiner eigenen Erinnerung konnte ich nichts über die Drachen finden, außer dass sie eine unheimliche Gefahr darstellten.

An diesem Abend aßen wir Erbsen und einige vorwitzige Hundertfüßler und Clara berichtete. Wieder ging es mir so, dass mir meine Stammes-Erinnerungen einfielen, wenn ich sie erzählen hörte.

Nach vier Jahren meiner Alt-Erinnerungen begann sehr allmählich ein immer kühler und stürmisch werdender Herbst. Die Vegetation bäumte sich buchstäblich gegen die Witterung auf, grünte und blühte. Gegen Ende des Herbstes bildeten sich "Winterfrüchte". Diese waren hart, vergleichbar mit den härtesten Nüssen, an die ich mich erinnern konnte. Es gab kaum ein Lebewesen, das diese Winterfrüchte essen konnte. Außerdem schmeckten sie Ekel erregend und rochen nach bitteren Mandeln. Ich vermutete, dass ihr Genuss lebensgefährlich war. Nach dieser Zeit warfen die Pflanzen ihre Blätter ab.

Der Winter begann meist harmlos mit etwas Schneefall und wärmeren Perioden. Nach einem Jahr meiner Rechnung fielen die Temperaturen so, dass selbst das Meer einfror. Innerhalb weniger Wochen lagerte sich eine mehrere Meter dicke Eisschicht über Seen, Flüsse und sogar das Meer. Flachere Gewässer gefroren vollständig. Und danach begann es unentwegt zu schneien. Anscheinend wurde aller Wasserdampf der Sommerhalbkugel auf der Winterseite eingefroren. Die Schneeschicht war gegen Ende des Winters enorm, so dass nur noch sehr wenige Kronen der Riesenbäume zu sehen waren.

Auf der Schneedecke gab es jedoch eine Flechte, die sich schnell vermehrte, sobald die fahle, tief stehende Sonne nur irgend schien. Und mit dieser Flechte wanderten riesige Herden von Tieren ein, die ich bei mir "Rentiere" nannte, riesige, warmblütige Vierbeiner, die es nach Wissen des Stammes im Sommer nicht gab. Ich vermute, dass sie sich während der wärmeren Jahreszeiten in die tiefen Wälder der Polarregionen zurückzogen. Nach dem Auftreten der Flechten zogen ihre Herden in die verschneiten Gebiete der gemäßigten Zonen und vermehren sich dort durch das für sie üppige Nahrungsangebot.

"Polar Gegend?", fragte Clara. Ich erklärte ihr, dass ihre Welt nur einen winzigen Teil des Planeten ausmachte, auf dem wir lebten. Ich erzählte von der Kugelgestalt, vom Zustandekommen von Sommer und Winter, so wie ich es auf Erden gelernt hatte. Sie blickte skeptisch, abweisend, fast feindselig. Ihre Welt war eine Scheibe, die im Ozean schwamm. Ich gab weitere Erklärungsversuche zunächst auf. Der Stamm jedenfalls buddelte in dem dicken Schnee ein weit verzweigtes Netz von Gängen und Höhlen. Manche Gänge wurden als Fallen mit einer dünnen Abdeckung versehen, so dass die Flechtenfresser einbrachen und so zu überwältigen waren.

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