Zeit-Myzel, Seite 72

Dabei verströmen sie den Geruch nach Blut von Warmblütern, also z. B. Menschen, in hoher Konzentration. Der Schwarm fliegt das neue, viel verlockendere Ziel an. Die Blätter warten ab, bis auch der letzte Moskito in einem der Spalte verschwunden ist, dann schnappt die Falle zu."

Clara vertraute mir noch einen Grund für ihre Pfade an: Falls jemand von ihrem Stamm kommen sollte, könnte sie sich fürs Erste zurückziehen und auf die Gelegenheit für einen guten Schuss abwarten. "Dein Glück war, dass du 'Wetu Eleanor' erwähnt hast. Anderenfalls ..."; sie vollendete den Satz nicht. Aber mir lief ein Schauer über den Rücken.

Als sich die Abenddämmerung über See und Hütte herab senkte, segelte plötzlich ein riesiger Schatten über den See. Ein riesiger Schnabel öffnete sich und durchfurchte das Wasser. Die Bugwelle schwappte bis zu unseren Füßen. Clara hatten den Bogen gespannt und ein Pfeil sirrte in Richtung des Drachen. Glücklicherweise prallte er seitlich am Schwanz des Ungeheuers ab und verschwand im aufgewühlten Wasser. Der Drache segelte über die Hütte, die Blätter rauschten; dann war der Spuk vorerst vorbei. "Das war Atros!", sagte ich. Er hat dich mir gezeigt und mir die Richtung gewiesen. "Hä?" fragte Clara giftig. "Die schnappen sich unser Kinder! - Weißt du das nicht?" - "Nein", antwortete ich, "davon wusste ich nicht. Natürlich", räumte ich ein, "es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Mensch in dieser Welt viele Feinde hat, und die Drachen dazu gehören. Aber gilt das nicht auch für die anderen Wesen, von denen wir uns ernähren?" Clara blickte mich skeptisch an, und hatte inzwischen einen neuen Pfeil auf die Sehne gelegt.
Ich bewunderte die Kunstfertigkeit, mit der sie die Pfeile, den Bogen und ihre sonstigen Jagd-Utensilien hergestellt hatte.

Besonders hatte es mir ihre Axt angetan, mit der sie die Pfade freischlug. Dass man Stein derart schärfen kann, hätte ich mir in der Zivilisation meiner Erinnerung nicht träumen lassen. Meine Steinwerkzeuge hatten längst nicht jene Qualitäten, die Clara mit einigen Handgriffen erreichte.

In diesem Augenblick segelte Atros erneut über die Hütte hinweg, diesmal in Richtung See. Clara schoss gar nicht erst. Der Drache landete auf dem aufspritzenden Wasser, tauchte ziemlich weit ein, so dass nur noch sein Rücken und der Kopf aus den Fluten ragten. Mit peitschendem Schwanz wendete das Riesenreptil und ruderte dann auf uns zu. "Clara!", warnte ich. "Wir brauchen Atros, wie er uns braucht. Ich fühle es! - Bitte!" Endlich ließ Clara den Bogen sinken. Ich vermute, dass auch die enorme Größe des Drachen ein Übriges an Überzeugungskraft geleistet hatte. Denn der kleine Pfeil war viel zu kurz, als dass er ein Urtier dieser Art ernsthaft verletzen konnte. Würde sich Atros feindlich verhalten, bliebe uns nur die Flucht in einen der schmalen Pfade im Dickicht, wohin uns dieser Riese nicht folgen konnte.

Atros Kopf mit dem gefährlichen Schnabel landete also unmittelbar vor uns. Gleich kam Talrin angelaufen mit purer Sensationslust im Blick. Ich legte meine Hand auf die feuchte Schuppenhaut und empfing sogleich ein Gefühl von freundschaftlicher Wärme. Mit der anderen fasste ich Claras Hand, die dem Frieden nicht traute. Doch auch sie musste wohl die freundschaftlichen Gefühle des Riesen spüren; denn sie taute sichtbar auf und tätschelte nun den Kopf des großen Tieres. Ich warf Atros einige der Riesenerbsen zu, und er schnappte sie geschickt aus der Luft. Auch Talrin beteiligte sich an dem Spiel. Er hatte den Ehrgeiz, die Erbsen so zu werfen, dass es schien, als könne der Drache sie unmöglich einfangen. Doch das geschah nie.

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