Zeit-Myzel, Seite 103

Kann eine Pflanze wütend werden? Ich wollte es lieber nicht ausprobieren. Ich rollte den schwer verletzten Helun auf das Blatt.

Hinter mir hörte ich das Sirren einer Sehne. Erneut plumpste ein Angreifer zu Boden. Die Einzigen, die noch richtig sehen konnten, waren Talrin und Clara durch die Telleraugen, so dass ich vermute, dass Clara geschossen hatte.

Aus dem Boden krabbelten, fahl im sterbenden Abendlicht schimmernd, Hundertfüßler und stürzten sich auf Helun, den sie wohl als Aas betrachteten. Doch für eine Pflanze beunruhigend rasch rollte sich das Blatt zusammen. Vom Rand tropfte eine Flüssigkeit, welche die gierigen Hundertfüßler augenblicklich vergessen ließ, was sie eigentlich wollten. Helun verschwand im Inneren der Rolle. Der Stiel verdickte und verkürzte sich und zog den unglücklichen Jäger in luftige Höhen.

Durch einen ähnlichen Vorgang war ich selbst einmal wieder hergestellt worden, nachdem ich von einem Blitz teilweise angeschmort worden war. Daher wusste ich, dass wir viele Tage auf Helun würden verzichten müssen. Wenn er trotz aller Mühe der Pflanze sterben sollte, würden wir dies praktisch nie erfahren. Denn der Baum der heilenden Blätter verdaute dann seine Beute, soweit meine lückenhaften Stammeserinnerungen reichten.

"Wir gehen!" entschied Tagong. Wir gingen allerdings erst, nachdem wir die toten Flugsaurier eingesammelt hatten. Schwer bepackt tappten wir den Pfad entlang durch das Dickicht zu unseren Hütten. Talrin und Zitrok schlugen Äste aufeinander und machten soviel Lärm wie möglich.

Dadurch, so meinten sie, verscheuchten sie weitere Angreifer. Ich glaubte viel eher, dass wir einfach in der tiefen Dunkelheit, bevor der sehr helle Stern über dieser Welt aufging, grundsätzlich nichts oder sehr wenig zu befürchten hatten. Unerwartet lag mir der Name dieses auffälligen Sterns auf der Zunge: "Halun", der Fröhliche - fast genau der Name unseres schwer verletzten Gefährten. Halun würde erst gegen Morgen aufsteigen. So kamen wir im Finsteren aber ohne weitere Probleme zu unseren Hütten.

So rasch es die Dunkelheit zuließ, häuteten wir unsere Beute und entnahmen ihnen Knochen, Sehnen und Klauen. Alles wurde dringend für Kleidung, Beutel und Jagdwaffen gebraucht.

Erst Stunden später, Halun ließ sein fahles Licht auf dem See schimmern, konnten wir ans Essen denken. Unsere treuen und ein wenig erschöpften Flieger bekamen natürlich auch jeder einen der erlegten Flugsaurier.

Unsere frischen Fleischvorräte mussten wir in den Hütten unter das Dach hängen, damit die Hundertfüßler nicht alles auffraßen. Glücklicherweise waren sie noch nie auf die Idee gekommen, an den Wänden hoch und über die Sehnen zur Beute zu klettern.

Die restliche Nacht verlief ruhig. Ich hörte nur, wie Tagong erregt auf seine Mutter einredete. Das gefiel mir überhaupt nicht, weil er nach dem Verlust Heluns bereits sehr abweisend mir gegenüber verhalten hatte. Kein Wort, keine Geste, kein Dank, dass ich seinen Bruder über die Lichtung getragen hatte, waren von seiner Seite gekommen. Im Gegensatz zu mir verfügte er nicht über eine mehr als sechzig-jährige Lebenserfahrung. Unfälle geschehen einfach, ohne dass jemand Schuld hat. Ich fürchtete mich vor Tagongs Gedankengängen.

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