(Erkundung - Zeit-Myzel, Seite 11)
Die Flügelspannweite entspricht meiner Elle, der Brustkorb ist so dick wie eine Kartoffel, ihm folgt ein gegliederter Hinterleib der Länge eines fabrikneuen Bleistifts. Der Kopf sieht aus wie eine Baseball-Kappe mit zwei großen, erhabenen Facettenaugen. Fühler tasten die Umgebung ab. Kieferzangen öffnen und schließen sich. Sie bilden den nach unten gerichteten "Schirm" der Kappe - so jedenfalls mein Eindruck. Kopf und Brustkorb schimmern grün mit kleinen Braunen Tupfern. Je nach Lichteinfall blitzen feine, violette Punkte.
Der Hinterleib schimmert blau und die auch hier vorhandenen violetten Lichtblitze erzeugen wahre Kaskaden von violettem Licht. Mühsam reiße ich mich von der Seh-Illusion durch Tellerauge los. Am Bachufer sehe ich nur ein schwaches Schimmern von unbestimmter Farbe - leider bin ich nur ein Mensch.
Ich spüre den Appetit Tellerauges auf dieses prächtige und sicher nahrhafte Insekt. Ehe noch Tellerauge reagieren kann, hat sich der lebende Mini-Hubschrauber in Bewegung gesetzt, umrundet mich und setzt sich ausgerechnet auf meine verletzte Schulter und beißt. "Autsch", denke ich, "das tut aber weh!". Doch einen Augenblick später, noch ehe ich das Tier verscheuchen kann, sind sowohl dieser Schmerz als auch der dumpfe Wundschmerz, dieses Pochen bei jedem Herzschlag, verschwunden. Soll ich jetzt: "Danke!" sagen oder werde ich durch den Biss sterben?
Versunken in meine Betrachtungen bemerke ich kaum, wie sich der Blick Tellerauges auf das dunkle Wasser richtet. Ein kleiner Fisch hat sich aus dem Bach ins Salzwasser der Bucht verirrt.
Er wendet und schießt zurück in unseren Bach. Der Blick hält den Fisch fest auch wenn er sich noch so schnell bewegt. Und was tut die Libelle? Tatsächlich gleitet sie über das dunkle Wasser wie von Radar geleitet. Sie greift sich den Fisch und verspeist ihn im Fluge.
Tellerauge hat inzwischen bereits wieder einen Fisch geortet, wie ich sehen kann. Er stellt eine viel größere Portion dar. Die Libelle kommt nach einer größeren Runde zu uns zurück. Im Sturzflug streift sie kurz die dunkle Wasserfläche und gewinnt wieder an Höhe. Der zappelnde Fisch landet vor meinen Füßen. Wieso? Die Libelle zieht ihre Kreise, Tellerauge schaut mich an. Ich stehe im Dunkeln und sehe den Fisch. Ich begreife, das soll meine Portion für heute Abend sein. "Aber nein!", denke ich in Richtung Tellerauge, "Du zuerst!" - Gedacht - getan. Nun erst erkenne ich, dass die Vorderläufe von Tellerauge in kleine, menschenähnliche Hände auslaufen. Fürs Laufen ballt er seine Hände zu Fäusten und läuft auf den Knöcheln. Deswegen richtet er sich auch bei jeder passenden Gelegenheit auf, um die Hände frei zu halten z. B. wie jetzt beim Essen. Das hätte mir schon vorige Nacht auffallen müssen. Na, ja, man kann nicht auf alles achten, vor allem nicht im Halbschlaf!
Nach dem Fisch machen wir uns auf und wandern am Bachlauf entlang im Wesentlichen in östlicher Richtung später ein wenig nach Norden. Die Vegetation wird immer dichter, Bäume mit beachtlich dicken Stämmen mit Buschwerk dazwischen erschweren das Fortkommen. Das Leben flieht uns größtenteils. Hoffen wir, dass dies so bleibt. An den Bäumen hängen große, dicke Keulen. Ob man die essen kann? Tellerauge wendet sich angewidert ab, guckt ostentativ in eine andere Richtung; soll er!

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