(Erkundung - Zeit-Myzel, Seite 14)
In diesem Augenblick wechseln die Perspektive und mein ganzes Wahrnehmungsvermögen, ein Szenenwechsel wie aus einem Abenteuerfilm! Dunkelheit umfängt mich, ich sehe zwei Bewegungen unter mir und schmecke Beute. Hunger! Ich fühle, mehr als ich denke, dass der beste Moment gleich kommen wird, mich auf die Beute fallen zu lassen. Ich verschiebe noch ein wenig meine Position und warte. Hunger! Unter mir vereinigen sich zwei Schatten und verharren. Ich stürze mich in die Tiefe, lasse mich auf die Beute fallen. Bei der ersten Berührung ringele ich meinen Leib um mein Mahl und ziehe zu, so fest ich kann. Mein überschüssiger Schwung lässt mich eine Körperlänge über den weichen Boden rollen. Mein Appetit lässt meine Anstrengungen verdoppeln. Bald kommt der Augenblick des Essens wie schon bei unzähligen Mahlzeiten vorher. Es ist der königliche Moment, der alle Not des Kletterns und Wartens vergessen lässt. - Ein schriller Schmerz durchzuckt mich. Mein ganzes Gesicht ist ein einziges Feuer. Den zweiten Schmerz in meiner Taille spüre ich schon kaum noch - ich habe etwas Entscheidendes übersehen: meine Feinde. Erneut ändert sich meine Perspektive. Diesmal ist die Beleuchtung wesentlich besser. Ich segele über deutlich sichtbare Baumwipfel. Hunger! Der Küstenstreifen kommt in Sicht. Ein lebendes Knäuel windet sich unter mir - Beute! In einer weiten Schleife gehe ich tiefer und stoße auf das Knäuel nieder. Ein kurzer, harter Griff und schon geht es wieder aufwärts. Meine Flughäute blähen sich auf bei meinen gewaltigen Schlägen. Meine Klauen graben sich tief in das unter mir hängende Fleisch. Aufwärts soll die Fahrt gehen in meinen Ess- und Schlafbaum.

Kaum habe ich ein Bisschen Höhe gewonnen, da wird meine Beute fast gewichtslos. Ich verstehe nicht, wie ein Wesen in seine Bestandteile zerfallen kann. Plötzlich habe ich nur etwas Langes, Dünnes im meinen Klauen, das sich kaum noch rührt: eine halbe Schlange - besser als nichts! Als ich meinen Ess- und Schlafbaum erreiche, wechselt die Szene erneut. Wieder aus großer Höhe sehe ich die Bucht und zwei dunkle Punkte dort wo eben noch ein Kampf auf Leben und Tod stattgefunden hat. Ich gehe näher heran, noch näher und noch näher. Überrascht stelle ich fest, dass dort zwei fröhliche Telleraugen sich ein Stück Schlange teilen. "Haben es die beiden doch tatsächlich geschafft, eine Schlange zu überlisten und einen Flugsaurier für ihre Zwecke einzusetzen?", denke ich. Wer ist der Beobachter ganz oben am Nachthimmel mit dem ich so eng verbunden bin? Ich ziehe mich in große Höhen zurück und versuche, mir das Landschaftsbild einzuprägen. Irgendwo im Nordosten, sicher einige Tagesmärsche entfernt, ist eine Lichtung zu erkennen, ein kleiner See und eine Hütte. Menschen? Das Nächste, was ich wahrnehme, ist Tellerauge. Er biegt die Äste aueinander, schlüpft durch die Lücke. Er klettert über mich hinweg. Mir fällt noch ein Name für die Riesenlibelle ein: Wibra.

An mehr kann sich Wetu in dieser Nacht nicht erinnern.

Wetu Eleanor, aufgeschrieben von Ekkard Brewig am 7. Juli 2007

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