Riese der Lüfte (Zeit-Myzel, Seite 25)
Der Drache hat aber anscheinend ein ganz anderes Interesse. Er hockt sich in den Sand und hält die riesigen Flügel ausgebreitet. In der Luft ist ein Piepen und Schwirren zu hören. Ein ganzer Schwarm der Putzervögel nimmt Maß. Einer nach dem Anderen lässt sich auf dem riesigen Körper nieder, jeder Vogel an einer anderen Stelle.

Tellerauge schläft schon wieder. Fauch ist im Unterholz verschwunden. Wo Wibra ist, kann ich nicht feststellen. Jedenfalls hat sie sich in Sicherheit gebracht. Ich fühle eine gewisse Furcht, glaube mich aber derzeit hinter den Ästen einigermaßen sicher. Von meinem Lager aus beobachte ich, wie die kleinen Vögel mit der auffälligen Warnzeichnung den riesigen Körper Stück für Stück bearbeiten.

Als ich schon geglaubt habe, nun seien sie fertig, folgt das unglaublichste Schauspiel. Der Riese sammelt seine Flügel ein und faltet sie sorgfältig, wie meine Großmutter ihren Regenschirm. Dann lässt er sich auf eine Seite plumpsen, so dass ich den Eindruck eines leichten Erdbebens habe. Schließlich dreht er sich auf den Rücken, streckt Kopf samt Schnabel lang aus und streckt die Beine in die Luft. Dann bleibt er ruhig und wie tot liegen, während die fleißigen Putzer ihn abpicken. Ich kann sogar sehen, wie die kleinen Kerle größere Brocken, gemeinsam aus der Haut des Riesen entfernen. Beim Anblick von spannenlangen Würmern oder Larven, die die Vögel herausziehen, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich hoffe, dass der Angriff der Insekten gestern nur meinem Blut galt und die Biester nicht auch Eier in meiner Haut abgelegt haben.

Die Putzer arbeiten an dem Riesen, bis die Sonne an ihrem violett schimmernden Himmel allmählich ins Meer steigt. Wie auf ein geheimes Kommando erheben sich alle Vögel. Sie sammeln sich wieder zu einem Schwarm und entschwinden hinter der ersten Baumreihe meinen Blicken.

Der Riese vor mir wälzt sich auf seinen Bauch. Ich kann sehen, wie sich die Muskeln an seinen Beinen verdicken. Er steht auf und stakst auf unser Lager zu. Jetzt wird mir doch ziemlich mulmig. Als er mit seinem Schnabel in unserem Versteck stochert, greife ich mir Tellerauge und schlüpfe aus dem Busch heraus und bringe soviel Buschwerk zwischen mich und den Schnabel. Leider wird mein Vorrat an Riesenerbsen Opfer des Schnabelträgers. Allerdings werde ich entlohnt durch das Schauspiel des Starts. Der Gigant rennt los, dass die Erde bebt. Dabei breitet er scheinbar seine Arme aus und streckt sie weit nach hinten. Dann wirft er sie nach vorne. Immer leichtfüßiger wird sein Lauf, bald ist er in der Luft! Die Flughäute klatschen, als wenn Mutter die Bettlaken ausschlägt. Nach kurzer Zeit hat er eine Thermik, d. h. eine Stelle senkrecht aufsteigender Luft, über dem Wald gefunden. Majestätisch und scheinbar mühelos schraubt er sich in die Höhe bis er nur noch als ein kleiner, schwarzer Fleck zu sehen ist.

Ab jetzt bin ich neugierig, was diese Drachen in der Nacht machen, wenn es keine Thermik gibt.

Wetu Eleanor, aufgeschrieben von Ekkard Brewig am 13. Juli 2007

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