Die Sphäre (Zeit-Myzel, Seite 30)

Die Libellen werden per "Blickradar" mit tödlicher Treffsicherheit auf das am Boden liegende Insekt gelenkt. Ich mag mir nicht ausdenken, was ein Schwarm von Tausenden dieser Insekten aus uns gemacht hätte trotz unserer Zusammenarbeit in der Luft und auf dem Boden. Ich spüre immer noch das Jucken der Pusteln, die ich gestern bei einem Angriff durch einen solchen Schwarm abbekommen habe.

Während wir uns durch die Dunkelheit kämpfen, kann ich gelegentlich auf das Meer hinaus schauen. Auf dem tiefschwarzen Wasser tanzen die Reflexe der Sterne, die hier viel heller sind als daheim - ich muss mich korrigieren: als in meiner Erinnerung an eine Welt, in der man sich hat abends in ein sicheres Haus zurückziehen und den wahren Schrecken des Lebens durch einen Fernseher zusehen kann. Ich beneide natürlich nur diejenigen Menschen, denen Seuchen, Kriege und Schmerzen nur mittelbar begegnen. Das Leben hier ist, gemessen an denjenigen, die dort haben leiden müssen, geradezu idyllisch.

Gleichwohl sehne ich mich nach menschlichen Beziehungen, nach Worten und Liebe - ich muss mich abermals verbessern: Ich liebe meine Gefährten. Da sie mir folgen, kann ich voraussetzen, dass auch sie meine Gesellschaft lieben. Doch ich frage mich, welchen Preis ich eines Tages dafür bezahlen muss. Angesichts der Wintervisionen, die mir Tellerauge einmal übermittelt hat, kann ich mir diesen Preis bereits ausmalen. Wir werden sesshaft werden, Vorräte für vier bis sechs Jahre meiner Erinnerung einlagern, Schlitten bauen und Zugtiere abrichten müssen. Vielleicht werden wir die fliegenden Festungen, die Drachen, zähmen und in wärmere Gefilde umziehen, falls es solche überhaupt auf dieser Welt geben sollte.

Wie macht man mit den mir bisher bekannten Materialien in dieser Welt ein Feuer? Dank der allgegenwärtigen Hundertfüßler gibt es keine größeren Mengen abgestorbenes, trockenes Material. Wenn Blitze einschlagen, verlöschen die Brände immer sofort.

Mein Blick gleitet wieder einmal über das finstere Meer und die darauf schäumende Brandung. Irgendwie kommt es mir vor, als werde es von Minute zu Minute heller. Ich bleibe stehen. Tatsächlich, die Wellenkämme sind deutlich sichtbar, und das hat nichts mit Tellerauges Fähigkeiten zu tun. Wir schauen in verschiedene Richtungen. Ein seltsames Zwielicht erfüllt die Welt. Als ich mich wieder in Tellerauges Bilder einklinke, erkenne ich auch den Grund. Über den Bäumen geht der besonders helle Stern, der auch am Tage zu sehen ist, auf. Die Sonne und dieser Stern stehen in einer Beziehung, wie die Venus meiner Erinnerung, mal als Abendstern, mal als Morgenstern. Nur verströmt diese Venus soviel Licht wie zehn Monde aus meiner Erinnerung. Es ist jetzt auch für meine Augen ausreichend hell.

Vertieft in diese Betrachtungen entgeht mir fast ein Objekt, das knapp über dem dunklen Meer hängt und langsam näher schwebt: eine durchsichtige Sphäre, einer überdimensionalen Seifenblase nicht unähnlich. Gemessen an der Höhe der sich brechenden Wellen, muss sie einen etwas kleineren Durchmesser haben als die Bäume hinter mir hoch sind. Wenn sie von Wellen berührt wird, schwebt sie ein Wenig in die Höhe und sinkt dann wieder auf das schwarze Wasser. Dabei schwingt sie mit einer pumpenden Bewegung. Als ich meine Aufmerksamkeit ganz auf dieses Gebilde richte, scheint es mit einem prächtigen Farbenspiel zu antworten. Tief violette Schlieren wechseln sich mit rubinroten, bernsteinfarbenen, grünen und blauen ab.

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