Zeit-Myzel, Seite 50

Ich griff zu, als das Reptil seinen Kopf durch die Stäbe meines kleinen Käfigs steckte. "Au, du tust mir weh!" schrie das Mädchen. "Man würgt keine Frauen!" redete sie mir ins Gewissen. "Du scheinst mir aber giftig zu sein!" sagte ich. "Du könntest mich einfach fallen lassen", sagte das Mädchen.

"Gewiss, das könnte ich. Aber du kämst vermutlich wieder, weil du jetzt weißt, wo ich schlafe. Also muss ich dich einsperren." erläuterte ich die Situation.

Ich hatte noch eine kleine Kalebasse. Dort könnte ich die Kleine bis zum Beginn eines neuen Klettertages kaltstellen. Offenbar las sie meine Gedanken oder sah im Geiste meine Bilder, jedenfalls verstärkte sie ihrerseits die Suggestion des Sees, des Mädchens und des mir gereichten Bechers. "Gut," sagte ich, "wenn du dafür sorgst, dass in diesem Gefäß Wasser ist, dann lasse ich dich frei." Das war zwar Erpressung; aber für beide Seiten vorteilhaft. Was wollte eine so kleine Schlange auch mit einem ganzen Menschen?!

Ich konnte jetzt durch die Augen der Schlange sehen. Und ich schmeckte mich. Meine Hand schmeckte leicht salzig und roch köstlich nach Fleisch. Zugleich fühlte ich einen eisernen Griff in meinem Nacken. Nun gut, das war mein eigener Griff, den ich gerade soweit lockerte, dass das kleine Reptil sich wieder bewegen konnte. Zugleich unterdrückte ich den Wunsch, in den Leckerbissen vor mir zu beißen. Vergiss den Leckebissen - zeig mir Wasser. Dabei dachte ich an wasserhaltige Früchte oder kannenförmige Blüten mit Regenwasser.

Die Schlange wendete den Kopf ein Wenig nach rechts. Dort, gar nicht weit weg, leuchteten plötzlich Früchte auf, die ich bisher nicht für genießbar gehalten hatte.

Sie waren so grün wie die Blätter und hatten eine narbige Schale.

Ich kletterte aus meinem Käfig, was mit nur einem freien Arm etwas schwierig war. Die Hand am anderen Arm musste ja die kleine Schlange halten. Ich folgte also ihrem Blick und nahm eine der Früchte von dem Busch auf dem sie wuchs. Ich knabberte leicht an der Schale herum. Der Geschmack war Ekel erregend. Das Mädchen meines Traumbildes schüttelte den Kopf. Sie nahm selbst eine derartige Frucht und biss beherzt ein Stück ab und spuckte es sogleich aus. Dann goss sie sich den Inhalt in den Mund, ohne die Schale zu berühren.

Ich machte es meinem Traummädchen nach, biss ein Loch in die Schale und ließ mir den Inhalt in den Mund laufen - zunächst ohne zu schlucken. In der Tat: das schmeckte wie klares Wasser. Das Mädchen hatte sich eine Belohnung redlich verdient. Also legte ich ihr freies Schwanzteil um einen Zweig, gab ihren kleinen Kopf frei und zog blitzschnell meine Hand weg.

Der Traum wurde undeutlicher und der Druck in meinem Nacken war weg. Dem Mädchen lief eine Träne über ihr ebenmäßiges Gesicht und sie winkte zum Abschied: "Ich heiße übrigens Clara!" rief sie mir zu, dann ersetzte die echte Dunkelheit das Bild des Sees mit der der hübschen, Wasser schöpfenden Clara.

Ich trank drei dieser Früchte leer und nahm noch drei weitere mit in meinen Käfig.

Am nächsten Tag regnete es, und die Äste und Zweige waren derart glitschig, dass es keine Möglichkeit gab, vorwärts zu kommen. Jedenfalls hatte ich keinen Durst!

Aufgeschrieben am 2. August 2007 von Ekkard Brewig

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